"Ich fühlte mich gedemütigt bis auf Knochemark"

4. Andorra Trail
21/22.06.2013

Bericht von Peter Maier


21./22.06.2014 4. Andorra Trail Andorra mit seinen 85.000 Einwohnern und 468 m2 km Fläche hat keinen eigentlichen Marathon, weil ja fast nur Berge, nämlich die Pyrenäen, zwischen Frankreich und Spanien, vorhanden sind. Und um hier zu laufen, sollte man aber schon mal Berge "gesehen" haben… Mein Sportfreund Klaus Westphal aus Frankfurt a. M. (im Foto links neben mir) lies mich wissen, dass er den Andorra Trail laufen will. Ich sagte: "Ich bin dabei". Leicht und locker schaute ich ein paar Tage vor dem Start in die Ausschreibung des Laufes. Was war das? Hier steht was von obligatorisch, also pflichtgemäß, sind mitzunehmen: Rucksack, Kopflampe mit Ersatzbatterien, Rettungsdecke, Pfeife, Regenjacke, Kopfschutz, Wasserreserve, Essenreserve, Handschuhe, Elastikbinde, Langes Oberteil, lange Zusatzhosen, wasserdichte Hosen, Handy. Empfohlen wurde noch mitzunehmen: Plastebecher, Skistöcke, separate Kopflampe mit Ersatzbatterien, Sonnencreme, Kopie Reisepass und dann alles in Plastetüten verpackt…

Das ist unglaublich. Dazu brauche ich ja einen Träger. Ich hatte von den Dingen überhaupt nichts parat. Wozu brauche ich das alles? Ich sah mir ein paar Videos über den Trail an: Schnee, Eis, Kälte, Berge runter, Berge hoch…auf was hatte ich mich hier eingelassen? Was für ein Greenhorn war ich, mal so hier einen Marathon laufen zu wollen?

Es gab verschiedene Varianten und Strecken, diesen Trail zu bewältigen. Die "einfachste" Strecke war der 35 km Trail, dann gab es noch Strecken über 78 km (Celestrail), 118 km (Ultra Mitic) und 184 km (Ronda dels Cims). Ich hatte mich für den Ultra Mitic mit insgesamt 8100 Höhenmetern über 118 km entschieden und wollte in Margineda bei 42 km aussteigen. Von Kumpels sammelte ich nun die obligatorischen Pflichtutensilien, kaufte einiges dazu, ignorierte aber die Worte von Supertroll Mirko: "Trailschuhe brauchst du unbedingt". In der Sächsischen Schweiz machte ich kurz eine scharfe schnelle Probewanderung, bewacht von meinem Freund Wolfgang und meinem Cousin Jörg und ich fühlte mich fit für dieses Abenteuer. Am 20.06.2012 war der Abflug nach Barcelona. Klaus und seine Sportfreunde Gerd und Judith waren schon da. Was nicht da war, war mein Koffer. Er war nicht mit dem Flugzeug angekommen, sollte mir aber nach Andorra nachgeschickt werden…

Wir nahmen ein Mietauto und Klaus manövrierte uns nach Andorra. Die Übernachtung am Startort Ordino, ca. 1300m hoch gelegen, war ganz nett in unserem "Hotel Coma".

Marathontag: Vormittags holten wir uns im Startbereich unsere Startunterlagen. Zum Glück wurden meine Laufsachen und Gepäck nicht kontrolliert. Ich war voller Hoffnung, dass mein Koffer noch ankommt. Nachmittags erhielt ich von der Hotelrezeption die Nachricht, dass mein Koffer demnächst nicht kommt, da erst Freitags Anlieferung wäre, Samstag und Sonntag Wochenende, Montag auch Feiertag und damit der Koffer am Dienstag da ist. Was??? Am Dienstag wollte ich längst zu Haus sein. Es war nun klar, der Koffer kommt nicht und ich habe außer meiner derzeitigen Bekleidung nur noch meine Laufschuhe aus dem Handgepäck. Für mich war alles vorbei! Ich war demoralisiert. Klaus versuchte nun vorsichtig, mich wieder aufzubauen. Er gab mir alles, was er entbehren konnte, dennoch mussten wir danach u. a. noch Hose, Socken, Stöcke, Pfeife und Rettungsdecke einkaufen. Danach war klar: Ich werde doch starten! 21:30 Uhr standen wir am Start. Zum Glück hatte ich den Fotoapparat im Handgepäck gehabt, aber das Ladegerät war im Koffer, damit hatte ich zwei ungeladene Akkus dabei.

21:55 Uhr war ein kurzes Feuerwerk und Punkt 22 Uhr war der Starschuss zum Ultra Mitic über 112 km. Klaus und ich hatten uns noch alles Gute gewünscht und so rannte Judith vorn mit, ich in der Mitte des Feldes und Klaus etwas hinter mir. Die Trailstrecke des Ultra Mitic war aber vor ein paar Tagen wegen starken Schneefalls noch geändert worden, so dass mein geplanter Ausstieg im Ort Margineda plötzlich bei km 37 sein sollte. Das bedeutete, dass ich damit noch 2,5 km hoch Richtung "Coll Bou Mort" steigen musste, dann umkehren und wieder runter rammeln, um die 42 km voll zu machen…

Es war Nacht, ca. 10 Grad und noch klatschten viele Zuschauer. Wir liefen 4 km anfangs über Straßen, dann über klitschnasse Wiesen und dann ab in den Wald. Es ging hoch, höher, mal so 800m höher. Meine Stirnlampe streifte durch den Wald, dutzende Läufer waren vor mir, aber auch hinter mir, ich war nicht der letzte. Einem Lindwurm gleich zog sich die Läuferkette nach oben. Einer gab das Tempo an, die anderen stapften hinterher, ein überholen auf diesen Pfaden war unmöglich. Nach 5km waren wir oben auf dem 1. Gipfel, dem "Coma Aubosa", 2135 m hoch,
angekommen. Aus dem Wald rauslaufend, war hier die erste Personenkontrolle. Wir wurden sehr oft kontrolliert. Plötzlich klagt meine Stirnlampe (Foto), der Lichtschien war noch ein Scheinchen, die Batterien waren runter, die waren doch aber neu gewesen. Hier oben konnte man wieder ordentlich laufen, aber nein, verdammt, ich begann nur noch zu rutschen, es war schlammig, nass, kalt und so dunkel hier. Ja es hatte die Tage vorher sehr viel geregnet. Wir blieben halbwegs auf der Höhe.

Ich patschte durch die vielen Bäche, meine Laufstöcke blieben im Morast stecken, knickten, da sie zusammensteckbar waren, plötzlich pausenlos ein. Jetzt kommen Schneefelder, ich möchte endlich wieder mal Fotos machen. Es ist unmöglich. Ich fliege pausenlos hin. Läuferhände helfen mir wieder hoch, ich versuch fünf Meter zu laufen und liege mit dem Gesicht im verharschten Schnee.

Ich kämpfe weiter, andere Läufer überholen mich, patsch, ich knalle wieder hin…da, die Rettung! Bei ca. km 10 ist ein toller Verpflegungs-stützpunkt: Schinken, Käse, Rosinen, Schokolade, wie im Schlaraffenland! Und da sehe ich auch noch zwei Engelchen…so ein Traum… (Foto) da werde ich in die Wirklichkeit gerissen: "Wechseln sie die Batterien!" zeigt mein Fotoapparat an. Ja klar, mach ich, denk ich. "Sorry Mädels, little moment" und wühle mit eiskalten Händen den zweiten Akku hervor: "Wechseln sie die Batterien!". Die Kälte hier oben hatte meine zwei Akkus zerlegt. Es war aus. Es gibt keine Fotos mehr, ab hier kann ich der Nachwelt nicht beweisen, was für ein Fiasko mir noch in dieser Nacht bevorstand, verzweifelt balle ich die Fäuste.
Ich renne das Schneefeld wieder entsprechend der Streckenmarkierung zurück, falle wieder pausenlos hin.
Es geht einen Pfad zwischen Bäumen hindurch, ich versuch immer einen Vordermann zu finden, der mir Licht spendet, denn mit meinen Stirnlampen war ich hier jetzt verloren. Plötzlich eine Lichtung, mein "Vorläufer" schnauft, was ist los? Ich schaue an ihm vorbei nach vorn, nein nicht vorn, ich muss nach oben schauen. So, toll, ich sehe überall Sterne über mir, ja, sich bewegende Sterne. Bin ich jetzt durchgedreht? Mein Vordermann zeigt nach oben.

 

Die sich bewegenden Sternchen sind die Stirnlampen von Läufern, die sich jetzt 1000 Höhenmeter (!) am Stück auf den Gipfel, den "Alt de la Capa", 2572 m hoch, hinaufbewegen. Die Stöcke sind kaputt, meine Laufschuhe sind das allerletzte, Sohlen aus Glatteis…hier am Berg absolut nicht zu gebrauchen! Aber da erwacht wieder der Kämpfer in mir. Diese 1000 Höhenmeter "peitsche" ich nach oben und KEIN einziger Bergläufer überholt mich auf diesem Stück nach oben, das immerhin drei Stunden dauern sollte. Nein, dafür überholte ich aber andere, wie das ging, weiß ich nicht mehr. Ich war wie im Rausch, 30 % Steigung im Berg und ich mittendrin. Imposant, wie die Stirnlampen der anderen Läufer vor und hinter mir auf und ab wippen.

Ganz oben auf dem Gipfel angekommen, war es schweinekalt, gefühlt weit unter 0 Grad Celsius, hier sind auch zugefrorene Pfützen, die sich im Mondlicht spiegeln. Ich laufe sofort weiter, jetzt geht es voll nach unten, na klar, wir waren ja grad auf der Bergspitze und da flieg ich im hohen Bogen über einen Felsblock, schlage mir die rechte Seite auf. Mein Gott, so geht das nicht. Ich muss jetzt ganz vorsichtig im schwachen Mondlicht runter-gehen, sonst komme ich nicht lebend unten an. Ich gehe wohl-gemerkt auf einem Grat herunter und links davon ist ziemlich abschüssige Wand. Jetzt ist mir klar, warum wir so oft kontrolliert werden, falls mal eben einer fehlt… Vorsichtig schleiche ich den Pfad herunter, den Lichtkegel anderer Läufer suchend. Mein spärliches Stirnlampenlicht, die rutschenden Schuhe und die kaputten Stöcke bringen mich fast um den Verstand. Ich müsste jetzt eigentlich aussteigen. Aber soll ich jetzt hier erfrieren? Zu Dutzenden laufen ja springen die anderen Läufer an mir vorbei. Sie lassen mich einfach stehen, alle überholen mich. Ich fühle Gelächter um mich herum. Ich fühle mich gedemütigt bis aufs Knochenmark.

Bin ich so schlecht? Es geht nichts mehr, gar nichts, ich stürze wieder. Ich muss doch von den vielen Stürzen aussehen wie ein Aussätziger, ich werde hier nie ankommen. Aber da, endlich, da ist wieder eine Verpflegungsstation. Dort wird mir gesagt, dass die Strecke wegen Unpassierbarkeit wieder geändert und der letzte noch folgende Berg "entschärft" wird.

Dafür müssen wir eine längere Strecke, nämlich am Ende über 42 km, laufen. Das ist meine Chance. Ich hänge mich wieder an Läufer dran, die gute Stirnlampen haben und klebe ihnen förmlich an den Hacken. Bei den nach unten zu laufenden Passagen stürze ich immer wieder hin, andere Läufer helfen mir wieder hoch. Inzwischen hat sich das Läuferfeld weit auseinandergezogen. Ich bin so bei km 30 und schaue auf die Uhr. Das könnte am Ende doch eine Zeit unter 10 Stunden werden. Knapp so lange bin ich schon einmal gelaufen, 1991 bei den 100 km in Biel… Es ist jetzt früh 6 Uhr. Zu Hause in Deutschland schlafen alle noch, ich laufe, steige und stürze seit 8 Stunden ununterbrochen. Jetzt endlich, die Sonne geht langsam auf. Ich erhasche einen Sonnenstrahl, er gleitet mir übers Gesicht und er zeigt mir irgendwie die Richtung, den Weg weiter nach unten, einen Weg aus Geröll, Sturzbächen, Steinen und Felsbrocken. Da vorn ist wieder eine Kontrollstation. "Wie weit noch"…."Na, 5 km" Ist das geil! 5 km nur noch!

Ich habe jetzt 8:35 h hinter mir. Ab und zu treffe ich Läufer. Es geht eine lange Steinmagistrale an einem Bach entlang, oberhalb von Margineda. Ich bin völlig ausgelaugt. Wenn ich das heute schaffen sollte, habe ich für mich einen ganz großen Coup gelandet. Aber was jetzt, wir müssen wieder über Geröllhalden und große Felsblöcke fast schon klettern.

Alle Läufer haben wir jetzt das gleiche Schicksal. Zum Glück ist es völlig hell, die Sonne wärmt ein wenig und leckt die geschundenen Knochen. Noch 2 km, ich nehme alle Kraft zusammen. Da ist ein Gebäude, da ist die Turnhalle. Hier ist für mich Endstation! Nach 9:25 h habe ich diesen Marathon, nein, kein Marathon, diese Tortur eines Trails im nächtlichen Andorra, mit vielen Wunden bedeckt, zwischendurch verzweifelt, fast aufgegeben, aber jetzt, einfach nur geschafft!!! Ich kann es leider nicht beweisen, wie hart der Trail für mich war, ich habe keine Fotos, aber er wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Nach einer Massage fährt mich der Shuttle zurück nach Ordino, wo Gerd und Klaus beim Frühstück sitzen. Moment - Klaus beim Frühstück?
Der müsste doch eigentlich noch laufen? Ja doch, das ist Klaus, Er musste leider gesundheitsbedingt wegen starker Kopfschmerzen und Magenproblemen aufgeben. Aber er wird wieder kommen und sich diesen Länderpunkt holen, das ist klar. Draußen vor dem Hotel schient die Sonne, herrlich. Ich nehme im Hotelzimmer ein ausgiebiges Bad. Mein Koffer: immer noch Fehlanzeige! Ich lege mich hin und versuch ein wenig zu ruhen.

Klaus und Gerd waren inzwischen an die Strecke gefahren, wollten Judith moralisch stärken. Bei herrlichstem Sonnenschein ging ich gegen Mittag zum offiziellen Zieleinlauf in Ordino.

Viele hübsche Mädels waren dort (Foto). Kurios, ich konnte hier keine "Dicken" sehen, nur drahtige durchtrainierte Boys und Girls waren heute zugegen. Durch die Wärme ging plötzlich auch mein Foto-apparat wieder und so konnte ich wenigsten noch ein paar tolle Schnappschüsse tätigen. Hier war also das Ziel für alle Strecken, das heißt hier kamen auch Läufer an, die 184 km in den Knochen hatten! Es war tolle Stimmung, jeder in das Ziel ankommende Läufer wurde frenetisch gefeiert! Mit Klaus ging es ich abends lecker essen, nachdem unerwartet nun mein Koffer eingetroffen war. Judith lief immer noch, denn Sie kämpfte ja um die gesamten 118 km des Ultra Mitic. Damit lief sie inzwischen in die 2. Nacht hinein! Sie kommt dann von Gerd empfangen überglücklich nach 30:38 h ins Ziel, ich ziehe meine "Hut"! Gewonnen hatten Sébastien BUFFARD und Òscar PÉREZ LÓPEZ, beide liefen zusammen in 18:11 h ein.

Von den 259 Teilnehmern auf unserer Strecke kamen am Ende 128 im Ziel nach 118 km in Ordino an, viele waren wie ich in Margineda bei der Marathondistanz "ausgestiegen" und auch einige hatten aus verschiedensten Gründen aufgegeben. Aber für mich war es trotzdem insbesondere wegen meines unsachgemäßen Materials eine herausragende Leistung! Tage später habe ich alles verdaut und gebe meiner kleinen Enkelin Marie ein T-Shirt vom Andorra Trail…


>> HOME

 

Weitere interessante Marathon-Berichte von Peter Maier:

>> Belgrad-Marathon 2012

>> Ljubljana-Marathon 2008
>> Skopje-Marathon 2010


Copyright © Dresdner Trolle |Kontakt: Info@Dresdner-Trolle.de | Haftungsausschluss | Stand: 08.02.2014
Besucher: Statistik: