Boa
Vista - welch schöner Anblick! Am geöffneten
Hotelpool funkeln Rentiere aus Draht mit dem blinkenden Weihnachtsstern
um die Wette. Das Kalenderblatt zeigt den 10. Dezember 2011.
Im Hauptort Sal Rei wollen 32 Frauen und Männer den 11.
Boa Vista Ultramarathon "nonstop" auf ganzen
150 Kilometern beleben. Zwei Minuten nach 7 Uhr folge ich den
Startern bedächtig (Foto).
Erstmals
verdecken Wüsten-Gamaschen meine deutlich zu großen
Schuhe, in denen sich die bis Morgen sicher heiß gelaufenen
Füße notfalls immer noch ausdehnen dürfen. Und
mein Laufrucksack ist nicht nur von der Pflichtausrüstung
prall gefüllt. Denn neben den regelmäßigen Wasserrationen
ist unterwegs wohl nur noch mit schönen Worten zu rechnen.
Die
Sonne streicht flach über den Sand und verspricht einen milden
Tag. Doch wie zur Wachsamkeit mahnend, erhebt sich plötzlich
der rostige Rumpf des spanischen Frachters "Cabo de Santa
Maria" aus dem Atlantik, dem 1968 das Wetter zum Verhängnis
wurde. Am Strand davor erwarten mich meine Lauffreunde Silvio
Schweinsberg, Markus Süße und Julian Popp. Markus lotst
uns als erfahrener "Wüstenfuchs" über jene
Strecke, die für ihn läuferisch in den letzten Jahren
zu einer Art zweiten Heimat wurde. Sandhügel führen
am türkisblauen Meer vorbei und tragen einen Teppich aus
Sukkulenten. Riesige Schildkröten haben hier ihre letzte
Ruhestätte gefunden. Am Checkpoint 2 nehmen wir unter einem
Pavillon auf der einladenden Couch Platz. Der Wunsch, länger
zu verweilen, wirkt auf die drängelnden Begleiter genauso
lächerlich wie die in der beißenden Hitze stehende
Weihnachtsbaumkopie, die voller Freude von Einheimischen aus langen
hellbraunen Holzstücken zusammengesteckt wird.
Aber
zum Glück herrscht ja gerade Winter auf Cap Verde. Mit mehr
als 35 °C ist also kaum zu rechnen. Behutsam nehme ich mir
den Kalksteinfelsen vor, auf dessen Spitze meine Kameraden nur
noch als Miniaturen zu erkennen sind. Schlagartig bin ich allein
in Afrika und erschrecke vor einer Welt, die nicht die meine ist.
In Bofareira spielen Kinder zwischen bunten, heruntergekommenen
Häusern, die Schule ist nur durch Weihnachtsmotive an den
Fenstern zu erkennen. Es scheint als hätte ich eine imaginäre
Zeitgrenze überschritten, die mich 100 Jahre in die Vergangenheit
katapultiert hat. Rote Markierungsfähnchen weisen in eine
Steppe mit hinterlistigen Dornensträuchern und durch ein
ausgetrocknetes Flussbett. Schon spüre ich Samt unter den
Füßen und begreife, warum diese Insel auch "Sahara
im Atlantik" genannt wird.
Dünen
schwingen sich formvollendet in den Himmel - und ich dackele wie
ein Welpe über den heißen Sand. Als Suchender entdecke
ich zwei Palmen. Anmutig schreitet mir von dort eine dunkelhaarige
Schönheit entgegen.
Bin
ich das Opfer einer Fata Morgana? Nein! Der nächste Checkpoint
ist erreicht. Erquickt setzte ich die Reise fort und bezwinge
die letzte Steigung. Über die Dörfer Estancia de Baixo
und Rabil führt ein Pfad am Flughafen vorbei zur "Alten
Ziegelei", deren Schornstein als das Wahrzeichen Boa Vistas
schon aus weiter Ferne grüßt. Erstaunt erfahre ich,
dass Silvio auf dieser Düne 20 Minuten auf mich wartete,
aber von Marco Zaffarani, dem vermeintlich harten italienischen
Orga-Chef, weitergeschickt wurde. Am
weißen Strand der Praia da Chave begutachten mich die Badenden
etwas verdutzt. Die Route führt wirklich an unserem Hotel
vorbei! Der Security-Mann will mich in meiner seltsam anmutenden
Kluft abwimmeln, doch ich beharre auf meinem "All Inclusive
- Armband" und ernte unvermittelt ein Lächeln. Genussvoll
setzte ich mich mit Cola, Fanta und Pommes an die Bar, wohlwissend,
dass ich von diesem kurzen Augenblick mental bis zur Dunkelheit
zehren werde.
Der Strand
ist momentan menschenleer und gehört mir für endlos
scheinende Kilometer. Dennoch fürchte ich mich nicht vor
einem der berüchtigten Überfälle. Wer rechnet denn
jetzt noch mit dem Schlussläufer? Immer wieder springe ich
vor dem Spielzeug des Windes, den heranbrausenden Wellen, zur
Seite.
Die Dunkelheit
naht und ich ziehe die Stirnlampe über. Lichtscheue Elemente
gleiten gespenstisch schnell über den Boden. Meine Leuchte
rotiert wie ein Radar und ich entdecke die Räuber der Nacht:
Geisterkrabben! Gebannt starre ich auf ein orangefarbenes Signallicht.
Das ist mein
Zeichen! Ich laufe und laufe bis ich an der Praia de Santa Monica
stehe und sich das Signal als Rundumleuchte auf dem Autodach des
Checkpoint-Jeeps enttarnt. Schließlich verlasse ich das
Areal der "verlassenen Häuser". Sofort leisten
die Stöcke Höchstarbeit, um mich vor einem Sturz zu
bewahren. Ich schlittere über hunderte Steine und meine Füße
rutschen in den Schuhen wie auf einer Bobbahn hin und her.