Bericht vom 30. Brocken-Marathon 13.10.2007

Text und alle Fotos von Mirko Leffler (email: Photo@photo-perfect.de)

Hüstelnd blättere ich noch einmal in der Ausschreibung. Ja, hier steht es: "Achtung! Der Brocken-Marathon ist ein Wettkampf mit ganz besonderen Anforderungen…Mit starkem Wind und Wetterumschlag muss gerechnet werden…Jeder Teilnehmer sollte sich darauf einstellen und trägt die persönliche Verantwortung für seine Gesundheit." Wahnsinn! Das sind exakt die Zeilen, die mich zur Anmeldung für "Norddeutschlands schwersten Marathon" verführt haben. Komisch, irgendwie klingen sie jetzt ganz anders. Damals, bei der Jahresplanung, war ich noch voller Energie. Heute aber ist der 13.Oktober 2007 und als müdes Wrack stehe ich neben meinem Leidensbruder Lars Unbehaun, der genauso verschnupft ist. Auch unseren Freund Christian Marx hat es erwischt. Doch Chrissi, der Glückliche, ist gar nicht erst angereist! Also versuchen wir es wenigstens im Trainingstempo! Vielleicht können wir die Erkältung sogar "weglaufen"? Andernfalls wird es eben eine harte Charakterschulung. Bei trüben 14°C empfängt uns Hasserode, der b(i)erühmte Wernigeroder Stadtteil. Unerwartet blicke ich in vertraute Gesichter: Markus Süße alias MS-SWEETY, mein fränkischer Bekannter vom diesjährigen Obermain-Marathon und dem Rennsteiglauf, ist mit vielen Mitstreitern angereist!

Kurz nach 9.00 Uhr entschweben wir dem Startplatz Himmelpforte in den verzauberten Wald. Die warme Umgebungsfarbe hat scheinbar das Bunte der Läufer angenommen. Wir entdecken lustige Bommelmützenträger, verfolgt von einem grauen Herrn in Sandalen. "Letztes Jahr um die Zeit ist der schon mit freiem Oberkörper gelaufen!" raunt es neben mir, bevor wir einen humpelnden beinbandagierten Weggefährten überholen. "Mir geht es gut" versichert der strahlend. Echt? Hm. Ob er auch weiß, dass jeder aus dem Rennen genommen wird, der erst nach 3 Stunden auf dem Brockengipfel ist? Schon schnaubt hinter uns eine Dame, die alleine im Vorjahr über 100 Marathon-Wettkämpfe absolviert haben soll. Werden wir von Entrückten umzingelt? Aber wieso fühle ich mich in diesem Pulk dann so wohl? Jetzt will ich es wissen und bohre tiefer.

Unser neuer Begleiter, René Gnauert aus Berlin, bestätigt meine Vorahnung. Im nächsten Jahr will René erstmals die wichtigsten Läufe für den Europacup der Ultramarathons sammeln. So wie ich! Das ist kein Zufall. Wir mussten uns begegnen! Können sich "Lebensläufe" gleichen? Gibt es unter "Extremläufern" eine Art Seelenver-wandtschaft oder gar Vorbestimmung? Gedanken-versunken ignoriere ich die Drohungen meiner rechten Hüfte bis sie langsam verstummen. Nach gemächlichem "Auf und Ab" betreten wir das sagenhafte Ilsetal. Lars beeindruckt mich mit seiner Disziplin, denn trotz unserer bedenklichen 10-Kilometerzeit von 1 Stunde und 2 Minuten behält er den lockeren Schritt bei. Respekt! Der Heinrich-Heine-Weg führt durch den Nationalpark Hochharz, der angeblichen Heimat von Auerhahn und Feuersalamander. Begründete der "letzte Dichter der Romantik" etwa hier seine Karriere, die mit dem Bericht "Die Harzreise" begann? Überrascht gerate ich ins Schwärmen und mein Fotografenherz schlägt höher. Ich befreie meine Digitale und begleite die Kameraden mit Kamera. Vor unseren Augen breitet sich eine gemalte Landschaft aus, in deren Mitte sich die wilde Ilse hinab stürzt. Sofort mutiere ich zum Genussläufer. Es wird Zeit für das erste entspannte Wettrennen meines Lebens! Der Himmel öffnet sich und für einen Augenblick bringt jeder Schritt die Erinnerung an meine sonnige Kindheit zurück. Doch ein Rudiment aus grauen Vorwendetagen naht.

 

Nach 16 Kilometern kreuzen wir den berüchtigten Panzerweg, der uns bis auf 1.142 Meter führen soll. Schon gleicht unsere Frequenz dem Betriebsausflug einer Hochschwangerengruppe. Mike, René und ich bleiben immer wieder stehen. Wir steigern uns in einen wahren Rausch! Unsere digitalen Helfer leisten Schwerstarbeit beim Blick auf die traumhafte Bergwelt, die nun hinter uns liegt. Schwer zu glauben, dass in dieser Gegend an 306 statistischen Jahrestagen der Nebel herrschen soll! Fasziniert wähne ich mich in den endlosen weiten Kanadas und verliere Lars, der einfach entschwindet. Weiße Wolken ziehen plötzlich vor blauem Horizont um einen mächtigen Funkmast. Ist das der Sendeturm? Dann sind wir doch gleich oben! Seltsam, den Weg habe ich mir viel steiler vorgestellt! Zwei Streckenposten winken uns aufgeregt über die Gleise der Brockenbahn, deren Dampfross sich kreischend nähert. Innerhalb von Sekunden verfinstert sich das Licht, Nebelschleier und kräftiger Wind gewinnen den Kampf. Fröstelnd denke ich an den aktuellen Rekord von 263 km/h Windgeschwindigkeit und schließe meine Jacke. Mit "Der Brocken ist ein Deutscher…" grüßt eine Tafel kurz vor dem höchsten Punkt. Drollig! Wie stellte sich der geistige Vater des Wanderweges denn damals den Durchschnittsgermanen vor? Mit Halbglatze? Jetzt passt wohl eher sein Gipfelbucheintrag von 1824: "Viele Steine, müde Beine, Aussicht keine, Heinrich Heine." Wir haben einen der mystischsten Plätze Europas erklommen! Granitfelsen namens Teufelskanzel und Hexenaltar warnen vor düsteren Gestalten. Trotzdem konnten sich selbst Goethe und dessen Faust dem "Blocksberg" nicht entziehen! Mein flauer Magen sehnt sich nach einer Pause. Gemeinsam mit René erreiche ich die nächste Verpflegungsstelle. Nach drei Minuten ist meine Vorratskammer endlich gefüllt. Doch es ist wie verhext. Auch mein letzter Beistand hat sich quasi im Dunst aufgelöst!

Ungläubig schaue ich bei Kilometer 21 auf die Uhr: 2 Stunden und 45 Minuten sind vergangen! Ich eile bergab, vorbei an Pferdewagen und klatschenden Wanderern. Ein Schild droht: "Vorsicht! Sprengarbeiten!" Ups. Rasch weiter! Unverhofft muss ich grinsen. Am Wegesrand rastet Kollege Clauss L. aus W., ein echtes Original! In langer gefleckter Hose und dem gelbem Biathlon(!)-Lätzchen mit "1" auf dem Bauch wirkt er wie ein Papagei, dem die Flügel gestutzt wurden. "Wo ist eigentlich deine Startnummer?" Clauss reißt sein Leibchen hoch und zeigt auf sein dunkles Shirt."Ich bin Schwarzläufer!" Wie bitte? Ach so, das ALG II reicht nicht für die Startgebühr! Sollte sich der Harz künftig besser auf Hartz IV einstellen? Nach 30 Kilometern ist meine beleidigte Hüfte wieder erwacht. Doch für Phantomschmerzen habe ich keinen Nerv frei. Mehr als 3 Stunden und 46 Minuten sind bereits verloren! Und es lauern noch zwei böse Anstiege. Kann ich da überhaupt unter 5 Stunden bleiben? Auf einer Lichtung pausiert eine Reisegruppe.

"Bist du eine Frau?" hallt es herüber. Meinen die mich? "Noch nicht!" rufe ich selbstbewusst und werde nachdenklich. Verwirre ich die Touristen mit meinem Kopftuch? Gibt es wirklich bärtige Brockenhexen? Dann darf man hier seiner Mutti auch ins Gesicht spucken - wenn ihr Bart brennt! Augenblicklich bin ich alleine. Aber nicht einsam. Ein gespenstisches Pfeifen ertönt. Es wird kälter obwohl die Sonne scheint, ein Rabe steigt auf. Zieht das sagenumwobene Brockengespenst durch das Unterholz oder geistern Bazillen in meinem Kopf? Ich hätte lieber nicht so viel über den Hexenstieg lesen sollen! Bei Kilometer 39 kämpfe ich mich durch düstere Schatten, kein Lichtstrahl fällt mehr zu Boden. Doch dann weicht das Dunkel und Schloss Wernigerode erhebt sich zwischen bunten Blättern weit vor mir. Mit neuen Kräften erhöhe ich den Puls, um den Dämonen zu entfliehen und rette mich nach 4:59:13 über die Ziellinie. Erlöst! Auch Lars hat es geschafft und ist mit seiner Gesamtzeit von 4:44:02 sehr zufrieden: Glücklich umarme ich meine Tochter Joy - und schrecke auf. Denn nebenan wartet schon mein verführerisch lächelndes Weib. Die Rothaarige!


 

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