"Es ist nie zu spät, der zu werden, der du hättest sein können"

3. Churfranken Trail Run
23.09.2012

Bericht von Mirko Leffler


23.09.2012 03. Churfranken Trail Run Äußerlich abgeklärt rufe ich auf dem Berliner Platz zum letzten Mal die Daten ab: 73,8 Kilometer, 1.800 Anstiegshöhenmeter, 8°C, 7.15 Uhr. Start? Start! Immer geradeaus, bloß keinen Blick zurück. Unter der Spessartbrücke Miltenberg schlummert der Main noch friedlich in seinem Bett. Bevor wir das riesige Brückentor passieren, schaut es spöttisch auf uns herab. So als wüsste es ganz genau, dass wir am 23.September 2012 an den Ausgangspunkt unseres größten Traumas zurückgekehrt sind. Welchen Wegzoll werden wir heute zahlen müssen?

Während sich unsere Lauffreunde Jochen Brosig und Dieter Ulbricht im Sieg um den inoffiziellen Titel "Trailfranke des Jahres" duellieren, geht es für Silvio Schweinsberg und mich nur um das pure Überleben. Das reine Ankommen. Schweini und mich verbindet das gleiche Schicksal.

Der 3. Churfranken Trail Run ist eröffnet! Hurtig verlassen wir die Altstadt und entern den Wald. So schnell wie möglich nehme ich die Verfolgung der vor mir spurtenden Einzel- und Staffelläufer auf. Überfordere ich mich gerade? Ich weiß es nicht. Eine Panikattacke treibt mich den Berg hinauf. Wenn man Angst sehen könnte, hätte ich längst einen Hasenfuß. Die Aussicht ins Maintal ist leicht getrübt und die Route noch dicht besiedelt. Abrupt verengt sie sich und ich fliege beinahe hinab zum goldverzierten Schutzpatron auf der Laurentiusbrücke. So als wäre es erst gestern gewesen! Damals war es auf dem Pflaster so heiter wie unsere Stimmung. Lachend gelangten wir auf die andere Seite. Alles schien locker und leicht. Vielleicht zu leicht?

Ein Bekannter reißt mich aus der Rückschau. Uwe Koch! Bei unserer letzten Begegnung hat mich Uwe an gleicher Stelle überholt. Ist das etwa ein böses Vorzeichen? Oder ist der Athlet aus Bad König gerade in der Form seines Lebens? Ich tippe arglos auf letzteres und geleite meinen Weggenossen redselig bis zum ersten Staffelwechselpunkt in Kleinheubach.

Nur noch vier Etappen! Ein frisch gestarteter Teamläufer überholt mich fragend: "Machst du die ganze Distanz?" "Leider!" brumme ich neidisch und drehe mich verstohlen um. Keine Spur von Silvio. Doch die führende Frau naht! Mit den guten Wünschen, die wir uns gegenseitig schenken, erwacht die Sonne und beleuchtet den "Promille Weg", an dem sich die Weintrauben wie in Armeekleidung aufreihen. Wieso folgt denn die nächste Verpflegungsstelle so früh? Sofort lichtet sich die Erinnerung. Diesen "Hammer-Trail" hatte mein Unterbewusstsein nicht grundlos verdrängt. Ein monströser Baum verharrt über dem Pfad, der nun wie eine Rampe nach oben führt. Willig lasse ich mich von den Mitstreitern überholen. Ich muss die Geschwindigkeit drosseln, bevor ich erdrosselt werde - und klettere wie ein Unpaarhufer bergwärts.

Der Kamm ist erreicht. An einem Stamm dominiert ein schwarzes "E" den weißen Grund: ich betrete den Eselsweg, über den im Mittelalter ganze Salz-Karawanen das weiße Gold gekarrt haben. Immer wieder erstaunlich!

Die beginnende Downhill-Strecke wechselt mehrfach das Profil. Unzählige Äste und Wurzeln greifen nach mir; wollen mich zu Fall bringen. Doch ich bleibe wachsam. Noch! Augenblicklich verzieren die Boten des Herbstes als gelbe Blätter den Waldboden, hinter dem sich im nahenden Baden-Württemberg majestätisch die Freudenburg erhebt. Nicht nur der einst zerfallenen Ruine Burg Freudenberg wurde neues Leben eingehaucht, auch ich will meine Chance nutzen. Am Main beklatscht mich eine lustige Kinderschar, dann wird es gespenstisch. Zwei Pferde grasen mit bemalten Leinensäcken über dem Kopf auf einer Koppel! Was hat es nur mit den rätselhaften Sack-Gesichtern auf sich? Wird hier gute Mähne zum schlechten Spiel gemacht? Ist das die Strafe für zu lautes Wiehern, ungezügeltes Abwerfen der Reiter oder nur ein simpler Schutz vor dem erschreckenden Anblick der Läufer? Leicht verwirrt ziehe ich weiter.

Kurz vor der Wechselzone in Collenberg fiebert ein Franzose mit rotem Halstuch und typischer Baskenmütze seinem Staffelauftritt entgegen. Der Kamerad schaut so putzig aus, dass ich ihn einfach umarmen muss und für ein gemeinsames Bild festhalte. Lachend ergibt er sich. Was für ein Spaß!

Ich darf allerdings nicht leichtsinnig werden, denn der tückische Churfranken Trail Run ist noch längst nicht bezwungen! Dieser Dritte ist mein Zweiter und soll der Erste werden. Der erste Wettkampf, der offiziell gewertet wird. Unerwartet greifen sie wieder nach mir - die dunklen Schatten der Erinnerung. Spätestens nach den überstandenen Premieren von "Zugspitzultratrail" und "100 Meilen Berlin" konnte mir im Vorjahr doch nichts mehr passieren! Stolz trug ich vor dem Anbruch des zweiten Churfrankenlaufes ein Shirt mit dem Aufdruck "Dead before DNF"; frei zu übersetzen mit "Lieber Sterben als nicht anzukommen." Aber auf dem Trail gibt es keine Immunität. Ich wurde gnadenlos abgestraft! Das Hemd habe ich wehmütig einem ruhmreicheren Freund übereignet. Trotzdem lebe ich noch!

Immerhin. An der Kirche St. Josef wünsche ich mir vergeblich Beistand. Die Teerstraße verbiegt sich himmelwärts und wird vom nahenden Forst verschluckt. Die "Königsetappe" degradiert mich gnadenlos zum Wanderer.

Am Kilometerschild 33 werde ich von einem fast ausgetrockneten Kameraden eskortiert, dem vom reinen Wassertrinken stets so übel wird, dass er lieber ein wenig dehydriert unterwegs ist. Bei diesem Event sind augenscheinlich nur die Härtesten an Bord. Was suche ich überhaupt hier? Wieso sollte ich diesmal durchkommen? Die ersehnte Verpflegungsstelle liegt schlagartig als Schlaraffenland vor uns. Bei Jutta und Michael genießen wir das erste Koffeingetränk des Tages! Das Unterholz wird dichter. Bemooste Steine säumen den Eselsweg, der erneut ein Teil der Strecke ist. Ein Mountainbiker, der schon über 200 Kilometer in den Beinen hat, bietet mir ein Gel an und berichtet, dass derzeit niemand mehr hinter mir läuft. Momentan bin ich also wirklich alleine. Hat Schweini schon verloren?

Ich haste talwärts, ignoriere die wangenroten Früchte der Apfelbäume und die viel zu idyllische Röllbacher Pfarrkirche Sankt Peter und Paul. Nur nicht ablenken lassen! Der Fränkische Marienweg biegt in Richtung Dieselstraße ab, doch mein Kraftstofftank bleibt leer. Über dem Tor zum Biergarten, in den wir noch im vorigen Herbst ganz nebenbei einkehrten, wuchert nun eine wilde Hecke. Ist das ein sanfter Wink der Fügung? Im Klingenberger Wald muss ich mich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Scheinbar lauern im Finstern nicht nur verwunschene Pflanzen, sondern vor allem Fußfallen! Behutsam trabe ich bis zum Mainwanderweg und werde von einer applaudierenden Gruppe empfangen. Unterhalb des Aussichtsturmes wartet mit der Rotweinstadt Klingenberg die schönste und inspirierendste Ansicht des gesamten Laufes.

Umgarnt von Rebstöcken, deren Triebe sich an die Brüstung schmiegen, verliere ich für einen kurzen Moment die Besinnung. Was für eine Hinterlist! Nur die bittere Erfahrung kann mich davor bewahren, länger zu verweilen. Eilig husche ich an einer Infotafel der Bodenstation vorüber und schaue erschrocken auf meine Schuhe: "Böden sind die Haut der Erde."! Leider bleibt am Ort der Clingenberg Festspiele keine Zeit für Theater. Dennoch fühle ich mich nach dem Verlassen von Ruine und Verpflegungsstation genarrt.

Überfordert suche ich nach dem richtigen Weg. Das Überangebot an Hinweisen, die sich auf engstem Raum tummeln, verlangt erhöhte Konzentration: "Esskastanien-lehrpfad", "Geologie erleben!", "Fränkischer Rotwein-wanderweg", "Hohbergstraße", "Bergwerkstraße", "Schön hier? Bauplatz kaufen!!!", "Mainwanderweg". Sind in dieser Region etwa Schild-Bürger unterwegs? Kurzerhand finde ich etwas Neues: die Mechenharder Treppchen. Von wegen "Treppchen"! Nach über 100 Stufen höre ich auf zu zählen. Wozu auch? Vermutlich komme ich nie wieder her. Oder doch? Blitzartig erreiche ich den Armensünderweg. Werde ich gleich für meinen kurzzeitigen Übermut sühnen?

Den Weg zum Klingenberger Galgen nehme ich bedeutend verhaltener. Vor zwölf Monaten schlug dort unsere letzte Stunde! Rechterhand erbitte ich Hilfe von der Mutter Gottes, begehe die Richtstätte des Hochgerichts von 1200 bis 1803 - und fühle mich seltsam befreit. Als ich die Mechenharder Straße quere, stehen mir fünf aufgerüstete Kids auf Rollern und Rädern skeptisch gegenüber. Nanu, sehe ich schon so fertig aus? An Maisfeldern vorbei bleibe ich auf dem Waldlehrpfad und hinterlasse eine Nachricht am Verpflegungspunkt. Silvio muss einfach noch im Rennen sein! "Sohl" lese ich auf einer Waldtafel. Mein Hirn übersetzt "Soul" und alles ist Musik: luftig, leicht, beschwingt. Ein Rabe verspottet mich lautstark, hinter mir kracht ein Tannenzapfen auf die Erde. Laufe ich zu langsam? Unvermittelt bin ich ganz bei mir; erfreue mich an Gräsern und Farnen. Atme die Wildnis ein und die Furcht aus.

Ich weiß auf einmal, dass ich es schaffen kann. Und hoffe gleichfalls auf ein glückliches Ende für meinen verschollenen Partner. Was für ein herrlicher Trail! Überrascht entdecke ich den Tatort unserer schmerzhaftesten Niederlage. Auf diesem Rasen sind wir 2011 so grausam gescheitert, die Transponder wurden uns vom Knöchel gerissen und wir mit hängenden Köpfen zum Ziel gefahren. Zeitlimit-Überschreitung! DNF! Aus! Vorbei! Heute ist alles anders. Bei Kilometer 58 begrüße ich das Betreuungsteam und tänzele nach sieben Stunden und sechs Minuten förmlich über die Zeitmessmatte in Elsenfeld: "Jungs, vor einem Jahr konnte ich euch überhaupt nicht leiden, jetzt mag ich euch sehr." Liege ich wirklich über eine Stunde vor der grausamen Zeitgrenze? Unglaublich!

Überhaupt fällt mir die besondere Herzlichkeit aller Betreuer, Wanderer, Sportler und des Publikums auf. Wieso habe ich davon seinerzeit nichts bemerkt? Seltsam. Plötzlich ahne ich, dass ich ein Anderer geworden bin und mir damals eine wichtige Lektion erteilt wurde: Bewahre den Respekt vor jedem Lauf! Ich erquicke mich an Kuchen, heißer Suppe, lustigen Frotzeleien und den Ultras, die nach und nach vorüberziehen. Nur Geduld! 28 Minuten später ist Schweini in Sichtweite. Starke Atemnot macht meinem Leidensbruder extrem zu schaffen, doch das Finishen muss einfach gelingen.

Auf zur Abschlussetappe! Wandernd begleite ich den standhaften Kompagnon, der seine mitgebrachten Stöcke umklammert, um so irgendwie Halt zu finden. Selbst dazu gibt es possierliche Nordic Walking-Schildchen an den Bäumen! Im Industriegebiet Marktkleinwallstadt holt uns mein Laufidol Hans-Uwe Zietlow ein und schließt sich plaudernd an. Eine Holzhütte bewirbt die Original Thüringer Rostbratwurst. Ups! Kritisch taxiere ich die Tafel. Sind wir noch auf Kurs?

"Am Viehtrieb" erhebt sich die Strecke und führt inklusive anmutigem Talblick - unserem aktuellem Tempo angepasst - zum Schneckenrain. Vermutlich vom nahenden Stallgeruch angelockt, galoppiert Hans-Uwe auf Höhe des Pferde-Trainingsparcours davon. Dafür schließt sich bei Dornau überraschend Klaus Neumann an: Ultralegende, Transeuropaläufer und der "Ankommer" schlechthin.

Jetzt sollte nichts mehr schief gehen! "Keule" amüsiert uns mit gepfefferten Anekdoten aus der Laufszene als der Wald prompt vor der Haustür des Brieftaubenvereins stoppt. Nur noch hinab! Trotz angezogener Handbremse rollen wir rechtzeitig auf das Gelände der Main-Spessart-Halle Sulzbach und haben die Nachprüfung bestanden. Überstanden! Nach zehn Stunden und neun Minuten sind wir erlöst. Endgültig! Trotzdem macht sich sofort ein verwegener Gedanke breit. Wie schnell hätte ich wohl ohne Foto- und Wartepausen sein können? Völlig absurd. Verrückt! Würde ich hier je wieder freiwillig antreten? Ernüchtert schüttele ich den Kopf. Bis ich an die weisen Worte von Mary Ann Evans denke:

"Es ist nie zu spät, der zu werden, der du hättest sein können."

( Dieser Bericht wurde vorab in "Condition 2/2013" veröffentlicht)___ >> (fast) Alles über Mirko Leffler

 

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