Immerhin.
An der Kirche St. Josef wünsche ich mir vergeblich Beistand.
Die Teerstraße verbiegt sich himmelwärts und wird vom
nahenden Forst verschluckt. Die "Königsetappe"
degradiert mich gnadenlos zum Wanderer.
Am
Kilometerschild 33 werde ich von einem fast ausgetrockneten Kameraden
eskortiert, dem vom reinen Wassertrinken stets so übel wird,
dass er lieber ein wenig dehydriert unterwegs ist. Bei diesem
Event sind augenscheinlich nur die Härtesten an Bord. Was
suche ich überhaupt hier? Wieso sollte ich diesmal durchkommen?
Die ersehnte Verpflegungsstelle liegt schlagartig als Schlaraffenland
vor uns. Bei
Jutta und Michael
genießen wir das erste Koffeingetränk des Tages! Das
Unterholz wird dichter. Bemooste Steine säumen den Eselsweg,
der erneut ein Teil der Strecke ist. Ein Mountainbiker, der schon
über 200 Kilometer in den Beinen hat, bietet mir ein Gel
an und berichtet, dass derzeit niemand mehr hinter mir läuft.
Momentan bin ich also wirklich alleine. Hat Schweini schon verloren?
Ich
haste talwärts, ignoriere die wangenroten Früchte der
Apfelbäume und die viel zu idyllische Röllbacher
Pfarrkirche Sankt Peter und Paul. Nur nicht ablenken
lassen! Der Fränkische Marienweg
biegt in Richtung Dieselstraße ab, doch mein Kraftstofftank
bleibt leer. Über dem Tor zum Biergarten, in den wir noch
im vorigen Herbst ganz nebenbei einkehrten, wuchert nun eine wilde
Hecke. Ist das ein sanfter Wink der Fügung? Im
Klingenberger Wald muss ich mich erst an die Dunkelheit gewöhnen.
Scheinbar lauern im Finstern nicht nur verwunschene Pflanzen,
sondern vor allem Fußfallen! Behutsam trabe ich bis zum
Mainwanderweg und werde von einer applaudierenden Gruppe empfangen.
Unterhalb des Aussichtsturmes wartet mit der Rotweinstadt Klingenberg
die schönste und inspirierendste Ansicht des gesamten Laufes.
Umgarnt von Rebstöcken, deren Triebe sich an die Brüstung
schmiegen, verliere ich für einen kurzen Moment die Besinnung.
Was für eine Hinterlist! Nur die bittere Erfahrung kann mich
davor bewahren, länger zu verweilen. Eilig husche ich an
einer Infotafel der Bodenstation vorüber und schaue erschrocken
auf meine Schuhe: "Böden sind die Haut der Erde."!
Leider bleibt am Ort der Clingenberg Festspiele keine Zeit für
Theater. Dennoch fühle ich mich nach dem Verlassen von Ruine
und Verpflegungsstation genarrt.
Überfordert
suche ich nach dem richtigen Weg. Das Überangebot an Hinweisen,
die sich auf engstem Raum tummeln, verlangt erhöhte Konzentration:
"Esskastanien-lehrpfad", "Geologie erleben!",
"Fränkischer Rotwein-wanderweg", "Hohbergstraße",
"Bergwerkstraße", "Schön hier? Bauplatz
kaufen!!!", "Mainwanderweg". Sind in dieser Region
etwa Schild-Bürger unterwegs? Kurzerhand finde ich etwas
Neues: die Mechenharder Treppchen. Von wegen "Treppchen"!
Nach über 100 Stufen höre ich auf zu zählen. Wozu
auch? Vermutlich komme ich nie wieder her. Oder doch? Blitzartig
erreiche ich den Armensünderweg. Werde ich gleich für
meinen kurzzeitigen Übermut sühnen?
Den
Weg zum Klingenberger Galgen
nehme ich bedeutend verhaltener. Vor zwölf Monaten schlug
dort unsere letzte Stunde! Rechterhand erbitte ich Hilfe von der
Mutter Gottes, begehe die Richtstätte des Hochgerichts von
1200 bis 1803 - und fühle mich seltsam befreit. Als ich die
Mechenharder Straße quere, stehen mir fünf aufgerüstete
Kids auf Rollern und Rädern skeptisch gegenüber. Nanu,
sehe ich schon so fertig aus? An Maisfeldern vorbei bleibe ich
auf dem Waldlehrpfad und hinterlasse eine Nachricht am Verpflegungspunkt.
Silvio muss einfach noch im Rennen sein! "Sohl" lese
ich auf einer Waldtafel. Mein Hirn übersetzt "Soul"
und alles ist Musik: luftig, leicht, beschwingt. Ein Rabe verspottet
mich lautstark, hinter mir kracht ein Tannenzapfen auf die Erde.
Laufe ich zu langsam? Unvermittelt bin ich ganz bei mir; erfreue
mich an Gräsern und Farnen. Atme die Wildnis ein und die
Furcht aus.
Ich
weiß auf einmal, dass ich es schaffen kann. Und hoffe gleichfalls
auf ein glückliches Ende für meinen verschollenen Partner.
Was für ein herrlicher Trail! Überrascht entdecke ich
den Tatort unserer schmerzhaftesten Niederlage. Auf diesem Rasen
sind wir 2011 so grausam gescheitert, die Transponder wurden uns
vom Knöchel gerissen und wir mit hängenden Köpfen
zum Ziel gefahren. Zeitlimit-Überschreitung! DNF! Aus! Vorbei!
Heute ist alles anders. Bei Kilometer
58 begrüße ich das Betreuungsteam und tänzele
nach sieben Stunden und sechs Minuten förmlich über
die Zeitmessmatte in Elsenfeld: "Jungs, vor einem Jahr konnte
ich euch überhaupt
nicht leiden, jetzt mag ich euch sehr." Liege ich wirklich
über eine Stunde vor der grausamen Zeitgrenze? Unglaublich!
Überhaupt
fällt mir die besondere Herzlichkeit aller Betreuer, Wanderer,
Sportler und des Publikums auf. Wieso habe ich davon seinerzeit
nichts bemerkt? Seltsam. Plötzlich ahne ich, dass ich ein
Anderer geworden bin und mir damals eine wichtige Lektion erteilt
wurde: Bewahre den Respekt vor jedem
Lauf! Ich erquicke mich an Kuchen, heißer Suppe,
lustigen Frotzeleien und den Ultras, die nach und nach vorüberziehen.
Nur Geduld! 28 Minuten später ist Schweini in Sichtweite.
Starke Atemnot macht meinem Leidensbruder extrem zu schaffen,
doch das Finishen muss einfach gelingen.
Auf
zur Abschlussetappe! Wandernd begleite ich den standhaften
Kompagnon, der seine mitgebrachten Stöcke umklammert, um
so irgendwie Halt zu finden. Selbst dazu gibt es possierliche
Nordic Walking-Schildchen an den Bäumen! Im Industriegebiet
Marktkleinwallstadt holt uns mein Laufidol Hans-Uwe Zietlow ein
und schließt sich plaudernd an. Eine Holzhütte bewirbt
die Original Thüringer Rostbratwurst. Ups! Kritisch taxiere
ich die Tafel. Sind wir noch auf Kurs?
"Am Viehtrieb" erhebt sich die Strecke und führt
inklusive anmutigem Talblick - unserem aktuellem Tempo angepasst
- zum Schneckenrain. Vermutlich vom nahenden Stallgeruch angelockt,
galoppiert Hans-Uwe auf Höhe des Pferde-Trainingsparcours
davon. Dafür schließt sich bei Dornau überraschend
Klaus Neumann an: Ultralegende, Transeuropaläufer und der
"Ankommer" schlechthin.
Jetzt
sollte nichts mehr schief gehen! "Keule" amüsiert
uns mit gepfefferten Anekdoten aus der Laufszene als der Wald
prompt vor der Haustür des Brieftaubenvereins stoppt. Nur
noch hinab! Trotz angezogener Handbremse rollen wir rechtzeitig
auf das Gelände der Main-Spessart-Halle Sulzbach und haben
die Nachprüfung bestanden. Überstanden!
Nach zehn Stunden und neun Minuten
sind wir erlöst. Endgültig! Trotzdem macht sich sofort
ein verwegener Gedanke breit. Wie schnell hätte ich wohl
ohne Foto- und Wartepausen sein können? Völlig absurd.
Verrückt! Würde ich hier je wieder freiwillig antreten?
Ernüchtert schüttele ich den Kopf. Bis ich an die weisen
Worte von Mary Ann Evans denke:
"Es ist nie zu spät, der zu
werden, der du hättest sein können."
(
Dieser Bericht wurde vorab in "Condition
2/2013" veröffentlicht)___
>> (fast)
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