"Extrem?- eigentlich war doch alles ganz normal"

1. Dirndltal Extrem Ultramarathon
28.07.2012

Bericht von Mirko Leffler


Das ESV-Heim Ober-Grafendorf liegt seit 6.00 Uhr hinter uns. Sonnen-blumen verneigen sich im Streiflicht vor dem 28.07.2012. "Dirndltal Extrem Ultramarathon" prangt blau auf weißen Schildern. Mein Lauffreund Silvio Schweinsberg und ich, Startnummer 11 und 1, wollen 111 Kilometer nonstop bezwingen. Was für eine Fügung! Gestern staunte ich noch respektvoll vor dem Höhenprofil, aber nach der ersten flachen Etappe witzele ich amüsiert: "Extrem ist doch höchstens mein schmaler Rucksack!" Ab Dietmannsdorf sausen wir an Weiden, Obstbäumen und einem Gotteshaus vorbei. Hinunter nach Hofstetten-Grünau zum Checkpoint 1. Wo sollen hier bloß die angekündigten 5.000 Anstiegshöhenmeter zusammenkommen?

Gefleckte Miniatur-Keramikrinder schauen zu uns herüber, ein Gartenzwerg reitet auf einem Schwein, im grünen Nirgendwo erhofft sich ein fünfstöckiger Briefkasten tägliche Visite. Wir sind der Zivilisation entronnen und auf dem gepriesenen Rundwanderweg 652, der nun auch als Römerweg 651 bezeichnet wird. Durch ein Wäldchen, hüfthohes Gras, vorbei an einem Kornfeld schnürt mir das Stretchshirt abrupt den Atem ab. "Luft in 2 Stunden" übersetze ich von einem gelben Wegweiser. Bitte sofort! Endlich darf ich wandern. Kuhfladen markieren den Trampelpfad. Wie gut, dass ich kein sandalentragender Legionär bin. Trotzdem trete ich in die braune Rinderbrühe. Mist! Über einem Steinbruch streicheln gelbbetupfte Wiesen das Gemüt. Neben uns reihen sich die Berge wie hintereinander liegende Strandnixen auf. Ich arbeite am Limit, murmele aber trotzig: "Ich pack` das".

Und es wirkt! Über fiese Wurzeln und Kühe, die mit Gras dekoriert vor uns liegen, finde ich wieder zu mir. Bis ein Blech mit "Holzschlägerung" droht. Auf dem Yeti-Steig zwischen Bichelberg und Grüntalkogelhütte, die vermutlich hitzefrei hat, laufen wir zwischen den schlanken Bäumen Slalom. Mitleidig applaudierende Damen spendieren mir in Weißenbach eine kalte Flasche Cola.

Im Wald hat sich ein edles Häuschen geschickt hinter meterhohem Unkraut versteckt - überrascht denke ich an meinen Garten. Nach der . Holzbrücke werden wir vom letzten Staffelläufer überholt. Die Mountainbiker Wolfsleiten-Strecke trägt uns talwärts nach Frankenfels. Wieso trabt Schweini denn geradeaus? Hey, links lockt das Freibad! Was kann uns die "Klimabündnis Gemeinde" bei 34°C wohl sonst noch bieten? Wasser an CP4! Als Lohn harren fünf steile Kilometer. Am bemoosten Märchenfilm-Brunnen der Redtenbach-Mühle kühlen wir unsere Gedanken. "Dirndl-Alm" verheißt eine Tafel. Ein Zeichen! Schon sind wir im Steinschaler Dörfl. Weiße Papierblüten säumen die Straße, hängen wie frisch geöffnete Knospen an den Sträuchern. Wartet endlich ein fesches Madl im Dirndl auf uns, das seine Schleife links trägt?

Hoffnungsvoll erhöhen wir die Frequenz, aber es ist zu spät. Die Auserwählte gibt soeben einem Anderen das Jawort! Traurig traben wir an der beschirmten Wiese und der erlesenen Hochzeits-gesellschaft vorüber, nicht ohne frech "Glückwunsch" zu rufen. Ein saftiges "Pssst!" lässt uns flüchten.

Über Stock und Stein queren wir Bienenhaus, Monste-rschaufel-Bagger, private Wasserstelle und kurz vor Schwarzenbach prompt drei Kameraden.CP 5 bei Kilometer 61 erreichen wir nach etwas mehr als zehn Stunden. Das Zeitlimit scheint besiegt, allein die Freude währt nur kurz. Beängstigende 13 Prozent Steigung lauern hinauf zum Eisenstein. Plötzlich verformen sich Sonne und Licht zu dunklen Schatten. Schnellstmöglich stöckeln wir zur Bergspitze. Finstere Wolken treiben uns bis zur Julius Seitner-Hütte. Von 1185 Metern blickt sie dämonisch wie das Jagdschloss des Grafen Dracula herab - nur das gigantische hölzerne Kreuz daneben bewahrt uns den Glauben. Sofort springen wir nach innen. Hinter den nassen Schutzscheiben nicken uns die Bäume hilflos zu, kalter Wind faucht durch die Fensterritzen.

Es werden Dirndlsaft und Dirndllikör offeriert. Schlagartig wird der schöne Dirndl-Traum zum Trauma. Das Dirndl ist in Niederösterreich lediglich eine rote Strauchfrucht! Wie schade. Ganze 41 Minuten bleiben wir bei den ausharrenden Mitstreitern und spielen den Pausenclown. Bis wir die Verfolgung zweier Abtrünniger aufnehmen. Am Gatter steht warnend "Respektiere deine Grenze", doch wir müssen weiter. Auf schmalen, regenschweren Pfaden schlittern wir wie Bergvagabunden abwärts, klettern über sterbende Bäume, immer den drohenden Abhang vor Augen.

Knicklichter beleuchten das Dickicht. Füße und Motivation sind am Ende, aber irgendwie sind wir auf dem "Gscheid-Sattel 868m" gelandet. Also wieder bergan zum Hohenstein! Aalglatte Steine liegen auf dem beinharten Abschnitt. Da, eine Botschaft: "Lieber Wanderer! Bist Du stark und fit, nimm bitte ein Stück Holz zur Hütte mit..." Ich überlege kurz und schleiche weiter. Derzeit bin ich weder fit noch stark und für einen Wandersmann eindeutig zu langsam. Nach CP 7 vor dem Otto Kandler-Haus entscheiden wir uns trotz herzzerreißendem Sonnenuntergang für den verdammt langen Abstieg. Jetzt macht die Nacht den Tag. Nur Silvio entschwindet. Lässt er mich zurück? Keine Leuchtsignale mehr. Nirgends! Verzweifelt bringe ich auf der Landstraße ein Auto zum Stehen. "Nach Schrambach? 300 Meter? Danke!"

Bei Kilometer 83 finden wir uns wieder; gemeinsam treten wir tapfer der Dunkelheit entgegen. Ab und zu erhellt sich der Himmel, Donner ist zu hören, dann herrscht Stille. Kurz nach Mitternacht zaubert der Regen helle Glüh-würmchen vor meine Stirnlampe und ich werde ungewollt zum Warmduscher. Schweini wirft sich an CP 9 einen goldfarbenen Poncho über und versüßt mir die Strecke als Königin der Nacht. Ein Werbebanner verabschiedet uns: "Auf Wiedersehen im Dirndltal! Pielachtal. Mostviertel". Ist es geschafft? Oh nein! Dutzende Markierungslichter schlängeln sich aufwärts Richtung Kaiserkogel. Wir folgen gehorsam. Trotz brutalem Stockeinsatz krieche ich nun wie auf Knien, der Regen schwappt über die Schuhe, die im Matsch keinen Halt finden. Zwei Schritte vor, einen zurück.

Jetzt ist der Berg mein Lehrer: Bleibe immer auf dem geraden Weg, sei standhaft, tritt fest auf, sonst strauchelst du! Wie dreckig ergeht es an diesem Steilstück erst den stocklosen Kollegen, die sich im Allradmodus in die Gräser und Disteln verbeißen müssen?

Der vorauseilende Silvio überwindet krachend und beinahe halbkastriert einen weiteren Zaunübersteig. Selbst im Mondlicht wirkt der silberne Stacheldraht bedrohlich. Ein perfekter Spagat zwischen Autist und Artist wird gewünscht. Erfahre ich nun, was ich noch nie wissen wollte? Lande ich sogleich in der Frauenwertung? Lediglich Schweini verhindert Schlimmeres. Schlafäugig entdecke ich ein schwankendes Knicklicht. Diesmal ist es wirklich ein Signal; dort ist CP10! Vorbei an muffelnden Nutztier-wohnblöcken entfaltet sich unerwartet ein Kunstlichtermeer unter uns. Für Romantik bleibt jedoch keine Zeit, die GPS-Signale meiner Uhr sind endgültig erloschen. Der Klang unserer Stockspitzen auf blankem Asphalt erschreckt nun ein schlafendes Maisfeld.

Aber nur so können wir die geschundenen Füße noch überlisten. Wird aus zwei humpelnden Masochisten nun das doppelte Flottchen? Wir wollen endlich ankommen; haben keinen Blick mehr für Meister Lampe, der uns mit kalten Augen von der Mitte des Radweges hinterher schaut. Und prompt sind wir da. Nach 22 Stunden und 50 Minuten. Unfassbar! Zufrieden reichen wir uns die Hände und blinzeln fragend: Wer oder was war denn nun "Extrem"? Die Teilnehmer, das Wetter oder die Strecke? Eigentlich war doch alles ganz normal. Abgesehen von Gerhard Lusskandl und seine Idee zu diesem Lauf.



( Dieser Bericht wurde vorab in "Running - Das Laufmagazin Nr. 153" veröffentlicht)___
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