Karlsruhe!
Was habe ich nicht alles von Dir gehört? Mausgrau
und langweilig sollst du sein. Klingt einfach logisch. Wo der
Bundesgerichtshof zu Hause ist, kann es ja nicht wirklich fröhlich
zugehen. Aber wie empfängst du Lars Unbehaun, Christian Marx
und mich? Mit einem verzeihenden, sonnigen Lächeln! Als wir
an deine Stadtgrenze kommen, sind wir fasziniert. "Viel vor.
Viel dahinter." lesen wir unter deinem Namen. Welch geistreiches
Wortspiel, das uns Ungläubige sofort bekehrt. Und neugierig
macht! Denn obwohl er nicht auf der Jahresplanung steht, können
wir deinem Aufruf zum Jubiläumslauf am 16. September 2007
einfach nicht widerstehen.
Gegen
8.40 Uhr parken unsere Kleiderbeutel in der Walter-Eucken-Schule.
Doch wo finden wir den Startblock? Wir müssen uns hastig
zwischen zwei Strassen entscheiden und schwingen uns hinter die
Tafel "Zugläufer 3:59h". Unser Guide heißt
laut Schild "Schrittmacher", hat sich mit Gesichtsfarbe
als roter Teufel getarnt, trägt einen gelben Luftballon und
ist 100KM-Finisher. Also sind wir richtig! Während Lars seinen
ersten Marathon aus eigener Kraft beenden will, startet Chrissi
mit iPod. Aber weder Instrumentals von Joey Kelly noch harte Beats
von AC/DC sollen ihn nach vorne peitschen, sondern Vokabeln in
penetranter Deutsch-Englisch-Übersetzung. Hoffentlich wird
er dabei keinen Schaden nehmen! Meine Strategie baut heute auf
die Geheimwaffe der weltbesten Marathonläuferin. Ich schaue
an meinen blassen Schenkeln herunter und stehe als männliches
Double von Paula Radcliffe bereit. Mit Kompressionsstrümpfen,
die in Pflegeheimen und bei Thrombosepatienten auch unter dem
Begriff "Stützstrumpf" bekannt sind. Ob mich das
wirklich schneller macht? Keine Ahnung! Kritiker behaupten gerne,
dass das Tragen beim Wettrennen vor allem der Herstellerfirma
nützt. Andererseits sollen nach neuesten Erkenntnissen auf
10.000 Metern satte 250 Meter Vorteil möglich sein. Das kann
in meiner "Leistungsklasse" immerhin bis zu 6 Minuten
ausmachen! In der Hoffnung, dass diese These ausnahmsweise nicht
von der Industrie gesponsert wird, behalte ich das schwarze Wadenkleid
an.
7
Minuten nach 9 Uhr wandern wir gemütlich über
die Startlinie und der Stau aus über 18.000 Beinen löst
sich. Ganz langsam. Nach einem gefühlten Kilometer sind wir
in der Kriegsstrasse. Leider haben einige Kollegen besondere Taktiken
entwickelt, um die vermeintliche Konkurrenz zu zermürben.
Als ich die Klänge eines begabten Saxophonisten in der Tunnelunterführung
inhalieren will, lauert die erste Attacke. Hilfe! Alles ist dunkel
und ich schaue auf ein Monster. Mein riesiger, unbekannter Vordermann
verängstigt mich nicht etwa mit seinem Muskelshirt, sondern
mit den (echt-)haarigen Auswucherungen, die zentimeterhoch und
unkontrolliert über seinen Rücken, die Schultern und
Arme sprießen. Ein Werwolf? Zum Glück haben wir keinen
Nachtlauf bei Vollmond! Um den Schrecken zu verdrängen, bleibe
ich bei Christian und Lars. Schon erschüttert Kindergeschrei
mein Trommelfell, nur durch kurzes Luftholen unterbrochen. Ist
gerade eine Mama unter die Füße gekommen oder werden
hier Babys gequält? Ich traue meinen Augen kaum. Hinter einem
Auto hat sich eine grauhaarige Omi verschanzt und pustet sich
auf einem Vorkriegsinstrument schwindelig, nur um uns anzufeuern!
Wir lachen und bedanken uns klatschend. Kilometer 10 entdecke
ich nach 55 Minuten. Ob das für eine Bestzeit reicht?
Schon
überlaufen wir die Autobahn A5. Es wird enger.
Dicht an dicht schieben wir uns durch den Oberwald. Plötzlich
ist Lars im Gedränge verschwunden. Die zweite Attacke erscheint
in Form eines schwergewichtigen Endfünfzigers mit dem Charme
einer Dampfwalze, dem ich wohl vor die Beine stolpere. "So
geht das nicht!" schimpft er. Mit einem freundlichen "Ich
habe die Route leider nicht gemacht, mein Freund!" lasse
ich seine Kritik an meinen atmungsaktiven Textilien abtropfen.
Wozu sinnlos Energie verschwenden? Nach mehrfachem Abbremsen verbreitert
sich der Weg wieder. Die ersten Bananen warten an der Verpflegungsstelle.
Und eine knackige Fußgängerüberführung. Ich
blicke zu Chrissi. Was war in dem Becher? Red Bull? Unerwartet
schwebe ich. Wie Major Tom. Völlig schwerelos! Kurzes Innehalten.
Es ist die Brücke, die unter dem Gleichschritt unserer Beine
schwankt! Noch vor der Europahalle treffe ich verdächtige
Weggefährten mit dem Schriftzug der Justizvollzugsanstalt
Karlsruhe auf den T-Shirts. Wird nun Attacke Nummer 3 geplant?
Sind das gar Häftlinge, die die Weiterentwicklung der elektronischen
Fußfessel testen?