"Wir müssen diesen Marathon in Kiew um 14 Tage verschieben…"

2. Kiew Euro Marathon

27.05.2017

Bericht von Peter Maier

Andre, mein neuer junger Dresdner Sportfreund (im Foto links), der alles verrückt Sportliche in sich vereint, der sich gern einmal bei 0 Grad Celsius oder weniger wettkampfmäßig durch Schlamm und ähnliche grausame Dinge kämpft, und ich, wir zwei wählten als ruhigen Ausgleich den Kiew Marathon. Termin war der 13. Mai, alles war gebucht, Flug, Hotel und Marathon…und plötzlich „Aus die Maus!“. „Aus sicherheit-stechnischen Gründen kann der Marathon nicht durchgeführt werden, da zur gleichen Zeit der „Eurovision Song Contest 2017“ (übrigens hatte dort Levina aus Deutschland den vorletzten Platz belegt) stattfindet. Die Top Runner aus Kiew wollen den Marathon deshalb später organisieren.“ VORBEI? NO! Der neue Termin war dann zwei Wochen danach und wir buchten alles zum zweiten Mal.

24. Mai: Dresden hat kaum noch ordentliche Flugverbindungen und so holte mich Andre ab und wir fuhren mit seinem Auto zum Prager Flughafen. Ohne Probleme war das Parkhaus gefunden und spätabends starteten wir um 22:40 Uhr in den Tschechischen Luftraum nach Kiew. Vom vorher gebuchten Taxifahrer wurden wir in Kiew erwartet und schnell waren wir an unserem Hotel Znannya. Dies ist eher eine Absteige mit schrecklichen Zimmern, aber na ja, 4:30 Uhr im Bett, dafür eben preiswert!

25. Mai: Völlig gerädert stehe ich zerknirscht um 9 Uhr auf, Andre war wie immer gut drauf: „Moin, Moin“, begrüßt er mich. Wir wechseln das Zimmer, auch nicht viel besser. Frühstück ist inbegriffen, wir sitzen an so einer Schulbank, der Fernseher läuft und es gibt Essen oder nicht Essen, es gibt Reis mit etwas Hähnchen-fleisch, sehr spartanisch. Nun rein ins Vergnügen, die Sonne scheint. Draußen endlich einen genüsslichen Kaffee geschlürft, führt der folgende Stadtrundgang vorbei an herrlichsten reifen Erdbeerkörbchen), der Metrostation „Universität“ (Foto) und hinein in die Wladimirkathedrale. Die war proppenvoll und wir lauschten der Predigt und der Orgelmusik. Wir fuhren mit der am tiefsten unter der Erde gebauten Metro zum Platz der Unabhängigkeit. Der „Majdan Nesaleschnosti“ ist der zentrale Platz der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Es ist erst 3 Jahre her: Szenen wie am 20. Februar 2014 hatte es in Kiew seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben: Mit Holz- und Metallschildern waren die Demonstranten am frühen Morgen die Institutskaja-Straße in Richtung Präsidentenpalast gelaufen, wenig später fielen Schüsse. Fast 100 Regierungs-gegner bezahlten ihre Teilnahme an den proeuropäischen Protest-märschen mit dem Leben (Foto).

Jetzt ist alles wieder so schön, so friedlich hier, für Außenstehende. Engelchen posieren in der Sonne vor den Sehenswürdigkeiten (Foto). Wir buchen eine Stadtrundfahrt. Leider haben wir fast nur Stau und hätten das auch zu Fuß machen können. Egal, wir sehen hauptsächlich unendliche viele Kirchen und Kathedralen. Schade nur, dass Russland in der Zeit der Besetzung so viele Kirchen dem Erdboden gleichgemacht hatte. Am „Maidan“ wieder angekommen, gehen wir an der bekannten, pulsie-renden Khreschatyk St entlang, gönnen uns mal wieder ein Käffchen, sehen den Pinchuk Art Centre und drehen dann abends nach rechts ab, vorbei am Botanischen Garten bis hin zum Hotel. Ein geiles Abendessen fehlt noch und so zieht uns eine Pizzeria an, wo wir uns eben zwei riesengroße Pizzas vergnüglich gönnen (Foto).

26. Mai: Eine abenteuerliche Fahrt mit dem Trolleybus vom Restaurant Bruce Lee (Foto 0863) beginnend unternehmen wir zum Olympiastadium. Es begann zu regnen, wir holten dort die Startunterlagen und erhielten sogar von Igor, dem Cheforganisator (Bild 0867) eine persönliche Einweisung.

Anschließend konnten wir uns ein paar Fotos mit den Klitschko Brüdern nicht entziehen (Foto). Es begann nun doch stärkster Dauerregen. Wir flüchteten ins Restaurant „Katysha“ und sahen dem Regen und den sich durch das Wasser kämpfenden hübschen Kiewerinnen zwei Stunden zu. Irgendwie hörte dieses Sauwetter doch ein wenig auf und wir fuhren mit der Metro zum Kiewer Höhlenkloster und zur Mutter Heimat. Diese Höhlenklosteranlage ist ein Traum und wir machen unendlich viele Fotos. Wir können uns nicht sattsehen an diesem geilen Gebäudeensemble. Wir laufen weiter zu dem Denkmal in Kiew, das man gesehen haben muss. „Ich war hier übrigens an diesem Denkmal „Mutter Heimat“ vor 42 Jahren schon mal, damals war ich 16 Jahre alt, da war an Dich noch nicht zu denken“, sag ich zu Andre. Wir lachen beide! Andre ist nicht zu bremsen er macht Fotos über Fotos (Foto), es ist auch ein traumhafter Blick in alle Richtungen.

Um Fünf sind wir wieder im Hotel. Ich muss mich ausruhen, na ja, ich mach jetzt ein längeres Päuschen, Andre dagegen pirscht draußen rum. Abends unternehmen wir einen Spaziergang zum Botanischen Garten. Oh Gott, bei volkstümlichen Waisen, gespielt von einer Kosakenband, lassen wir uns Steak und Bier gut munden, wir wollen ja morgen gut gestärkt sein!

27. Mai: Marathontag: 7:45 Uhr klopfen wir an die Tür des Frühstückraums, unwirsch wie immer öffnet der Concierge, irgendwas Warmes tischt er uns auf, aber wir sind eh mit den Gedanken wo anders. Mit Bus Nr. 3 fahren wir zum Olympia-stadion, schnell sind die Sachen abgegeben, Andre entwischt meinen Augen, ich glaube er läuft sich warm. Ich sauge die Atmosphäre ein, Cheerleaders posieren (Foto) und die Läufer dehnen sich nach heißer Popmusik. Die Wetterlage ist heute genial, mir vielleicht ein wenig zu kalt: ca. 14 Grad, etwas bedeckt, soweit ich aus dem Stadiondachöffnung rausgucken kann. Ich komme wieder zu Andre, der ist heiß, denke ich. 9 Uhr ist der Startschuss für uns Marathonies und die Staffeln, zusammen vielleicht 200 Läufer. Locker traben wir, also zumindest ich, eine Runde durch das Stadion, eh es raus auf die Straße geht. Der Parkour ist denkbar einfach: Dieser Marathon ist vielleicht nicht so schön wie ein Stadtmarathon über ein oder zwei Runden, aber trotzdem.

 

Der Marathon insgesamt bestand aus 7 Runden, vom Stadion ging es auf die Velyka Vasylkivska Str, von da auf der gleichen Straße ca. 3 km bis zum Wendepunkt und wieder zurück, durch das Stadion und das Ganze dann siebenmal, so wäre das ganz kurz beschrieben. (Aber das hatten wir ja noch alles vor uns. Nach ca. 500 m laufen wir etwa 800 m auf gewöhnungsbedürftigen Straßenpflaster, da heißt es „Augen auf“, nicht stolpern. Prima, die Straße ist komplett gesperrt. Es gab eine einzige Verpflegungsstelle (Foto), das ist gekonnt ausgeklügelt, denn das reicht hier aus! Es lief alles gut. Ein kurzes Weilchen sah ich Andre noch vor mir, dann war er nach vorn entwischt. Die ersten 15 min lief ich ca. 9 km/h, dann ging ich ca. 90 sec. Danach wieder alles in gleichen Abständen aufgeteilt, lief ich die Strecke weiter.

Die Straße war aber leicht hügelig, wie eben auch ganz Kiew gelegen ist. Es kam der Verpflegungspunkt in der Mitte der Strecke, es gab ausreichend zu trinken, Bananen und Äpfel und die „Bedienung“ war sehr nett zu uns. Andre war voraus. Da sich alles auf dieser Straße abspielt, sah ich bald die anderen Läufer auf der anderen Straßenseite zurückkommen. Da kommt die Führende Läuferin bei den Frauen, auch Andre kommt mir entgegen. Zuschauer gab es kaum, aber es war sehr gut abgesperrt. Am Wendepunkt gedreht, ging es zurück, aha, das ist toll, hinter mir sind doch noch eine paar Läufer. Kurz vor dem Stadion noch ein paar Mädels abklatschen (Foto) und rechts rum zur Stadioneinfahrt. Die 1. Runde durchlief ich im Stadion in 36:10 min. Das war nicht schlecht. So konnte ich das Zeitlimit von 6 Stunden „bequem“ erreichen. Da war auch noch ein bisschen Zeit für Beobachtung der Halbmarathonies, die bald starten sollten und ein kurzer Plausch mit einer Staffelläuferin (Foto).

In der 2. Runde kamen dann die Halbmarathonies und rollten das Feld von hinten auf. Ich hatte vor, vier Runden mit den Gehpausen zu Laufen. Die letzten 3 Runden ab km 24 wollte ich bis zum Ziel nur noch gehen. Genau so machte ich es auch. Die 2. Runde war meine Schnellste in 35:50 min. Aber darum ging es mir überhaupt nicht. Ich wollte die Atmosphäre genießen, den Lauf beobachten. Das ging ja auch prima, weil mir der ganze Tross jeweils wieder entgegenkam.

So sah ich natürlich meinen lieben Andre wieder. Er war nicht so zufrieden, hatte ich das Gefühl. Aber er nahm es mit Humor. Na dreieinhalb Runden am Wendepunkt kam die Sonne raus, ich kannte die Strecke inzwischen gut, es wurde mollig warm. Egal, ich hatte die Mütze auf, entweder als Kälteschutz oder jetzt als Sonnenschutz. Es gab genug Wasser und so konnte ich mir dieses jetzt als Abkühlung über den Kopf schütten
Sehenswürdigkeiten war einige wenige auf der Strecke, so die Katholische Kirche oder das Nationaltheater. Jetzt hatte ich die 4 Runden geschafft und lief durch das Stadion in 2:26:56. Das war geschafft! Tempo raus und gedanklich und körperlich umschalten auf Gehen. Nun überholen mich natürlich alle. Lag ich bisher halbwegs im Mittelfeld, wurde ich jetzt durchgereicht, man lief und trabte an mir vorbei. Das muss man mental überstehen, im Läuferfeld total nach hinten durchgereicht zu werden.


Die Sonne stach jetzt von oben herab. Aber ich hatte hölligen Spaß, ich rechnete die Zeit hoch, na ja, werden das so ungefähr 5:30 h am Ende. So ging ich die 5. Runde locker in 59:02 min. Die Halbmarathonies waren nun inzwischen schon fast alle im Ziel und ich sah nur noch vereinzelte Läufer. Irgendwann kam mir auch wieder Andre entgegen.

Er war etwas wutig und sagte, die Strecke ist zu lang, mein GPS hat schon 42,195 km angezeigt, ich hätte im Ziel sein müssen. Mmm, das hatte ich natürlich nicht gemerkt. In der letzten Runde sah ich bei ca. km 37 ein jungen Mann vor mir ganz langsam gehen. Ich überholte ihn und sah ihn von der Seite an. Er war aschfahl im Gesicht, weiß, blass, fast grau. Er war kurz vorm zusammenbrechen. Er murmelte, es sei sein 1. Marathon. Ja, er hatte sich einfach übernommen, wenig gegessen, zu wenig getrunken. Anfängerfehler, dachte ich, das ging uns allen mal so. Ich lenkte ihn ab und wir gingen zusammen zum Wendepunkt, hier gab ich ihm all meine Reserven zu Essen, besonders die Powerriegel: Jetzt geschah das Wunder. Ich konnte von Minute zu Minute sehen, wie seine Lebensgeister wiederkamen. Nach 15 min plötzlich sagte er, nämlich Denis, „du Peter, ich bin wieder fit“ (Foto).

Ob er wieder laufen sollte, „na klar“, sage ich und er lief los. Ich war wieder allein, aber ich wusste, ich habe es auch fast schon geschafft. Das zieh ich jetzt locker durch. Da kam auch ca. 800 m vor dem Ziel Andre mit imposanter Medaille winkend auf mich zu. Ich freue mich sehr. Er begleitet mich bis zum Stadion. Die Eingangspforte muss ich nun aber selbst öffnen (Bild 1026), bin ja fast der Letzte. Dann ging ich allein ins Stadion rein, ich musste noch meine letzte Runde drehen, aber die kostete ich aus! Herrlich, und eine tolle Zeit für mich. 5: 23:32 h. Natürlich bekam ich auch die tolle Medaille umgehangen (Bild 1034 und 1037). Ich machte Fotos mit Andre und mit Denis, der überglücklich seinen 1. Marathon geschafft hatte. Andre unterzog sich einer Massage, sie kneteten ihn ordentlich durch, während ich draußen in der Sonne mich ausruhte.

Ich holte meinen Kleiderbeutel, ich glaub es war fast der Allerletzte, der einsam bei den aufpassenden Mädels hing. Vergnügt fuhren wir zum Hotel zurück, jetzt Ausruhen und ein wenig Schlafen. Ja und abends fuhren wir die uns schon bekannte Strecke mit der Buslinie 3 zum Stadion und gingen wieder in die „unsere“ Kneipe Katysha, wo wir gestern bei diesem Unwetter Zuflucht gesucht hatte.

Und hier aßen wir die Speisekarte hoch und runter. Hatten wir einen Hunger!!! Borschtsch, Schöpskasalat, Hähnchen- filet und dazu Bier, Bier, Bier (Foto). Mmmmm, dies tat so gut! Und beim Dunkelwerden waren wir wieder auf der Marathon-strecke, auf „unserer“ Straße. Hier waren inzwischen auch viele Einheimische, sie waren einfach auch wie wir auf der Straße und genossen den Abend (Bild 1073).28. Mai: Es war Sonntag und die Stadt menschen-leer. Unser Taxifahrer von der Herfahrt holte uns überpünktlich ab und war sehr gesprächig bis zum Flugplatz. Schade, wäre das auf der Hinfahrt schon so gewesen, hätten wir am Anfang schon viel mehr über Kiew gewusst. Wir stiegen in die Propellermaschine ein und es ging auf nach Riga, danach nach Prag. Und von hier, nachdem wir doch noch Andre‘ s Auto unversehrt im Parkhaus gefunden hatten, fuhren wir nach einem Mittagessen in Prag nach Hause. Für Andre war es der 4. Marathon in 3:56:22h. Für mich ist die Ukraine das 69. Marathon Land und immerhin hatte ich auch ein kleines Jubiläum. Kiew war meine 50. Hauptstadt, in der ich die Straßen unter meine Laufschuhe genommen hatte.

1. Runde (6 km): 36:10 min 36:10 min
2. Runde (12 km): 35:50 min 1:12:00 h
3. Runde (18 km): 37:46 min 1:49:46 h
4. Runde (24 km): 37:10 min 2:26:56 h
5. Runde (30 km): 59:02 min 3:25:58 h
6. Runde (36 km): 55:55 min 4:21:53 h
7. Runde (Ziel): 61:39 min 5:23:32 ______________________>> HOME


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