39. Two Oceans Marathon

22.03.2008

Text und alle Fotos von Mirko Leffler (email: Photo@photo-perfect.de)


Schweigend sitze ich am Fenster des einsamen Taxis, das mich durch die finstere Nacht von Kapstadt bringt. Stimmt die Route? Fahre ich wirklich zum Start des 39.Two Oceans Marathon? Der Wagen stoppt. Blitzschnell steige ich aus. Völlig unversehrt! Heute muss ich mir keine Gedanken um die Sicherheit machen! Nicht am Ostersamstag, dem 22.März 2008. Rechtzeitig klettere ich in den Block "F". Gleich ist es 6.25 Uhr. Start! Leicht fröstelnd folge ich tausenden Wettkämpfern auf dem endlosen Asphalt. Doch bald wärmen mich die Worte von Mary, einer jung gebliebenen Mittfünfzigerin. Meinen Vornamen und das Herkunftsland hat sie auf meiner Startnummer entdeckt, die auch auf dem Rücken befestigt ist. Die Südafrikanerin ist bereits das sechste Mal dabei. "Wir müssen hinter großen Männern laufen, um uns vor dem Wind zu schützen!" macht sie mir begreiflich. Ich schaue mich um. Und fühle mich wie ein Riese, der in einen Pygmäenstamm geraten ist! Augenblicklich muss ich schmunzeln. Wir beide sind diese Männer!

Nach 56:26 Minuten und 10 Kilometern zwinkern zarte Sonnenstrahlen. Beginnt jetzt das Vorspiel? Es wurden bis zu 26°C angesagt! Aber die erste Meeresbrise spült meine Zweifel davon. Der indische Ozean ist in Sicht! Hinter Kilometerpunkt 17 grüßen die kunterbunten Badehäuser am St. James Beach.Nur meine Beine fühlen sich merkwürdig schwer an. Licht und Schatten wechseln sich jetzt ab. Innen und außen. Wer hat denn diese gestörten Verkehrswege gebaut? Die Straße fällt entweder leicht nach links und rechts ab oder legt sich in die Kurve wie in einem Windkanal!

Nach 2:06:52 bemerke ich Kilometer 22. Da! Schon liegt sie vor uns wie ein verführerischer Vamp. Ihre Kurven schlängeln sich malerisch über die Klippen. Die wohl schönste Küstenstrasse der Welt ist erwacht! Wen stören da knapp zehn Kilometer Anstieg auf dem Chapman`s Peak Drive? Wie an einer langen Perlenkette fädeln sich hunderte bunte Shirts über das Panorama. So als würden sie den Träger eines gigantischen Bikini-Oberteiles bilden! Ein Aufschrei zerreißt meinen Tagtraum. Neben mir ist eine Deutsche über ein "Cateye" gestürzt. Diese hinterlistigen Metallprotektoren grinsen momentan in kurzen Abständen von der Fahrbahnmitte. Mit einem "Bloß nicht daran denken!" und blutigem Unterarm macht sie weiter. Mitleidig schaue ich hinterher. Wie konnte sie denn die Warnungen in der Ausschreibung übersehen? Eine gewissenhafte Vorbereitung zahlt sich doch immer aus!

Natürlich habe ich die Strecke von Muizenberg nach Hout Bay bereits zwei Mal mit dem Mietwagen befahren. Mich kann also nichts überraschen. Aber irgendwie schien es mit dem Auto deutlich flacher zu sein. Und kürzer. Viel früher als erwartet klebt der Teer an meiner Psyche. Aua. Verflixt! Sofort stolpere auch ich über ein gemeines "Katzenauge". Prompt habe ich Verständnis für das frisch gefallene Mädchen. Seltsam, wie der Schmerz verbindet! 3:02:53. Am Kilometerschild 30 ringe ich mit dem launischen Wind, bis ich entkommen kann. Vielleicht liege ich schon über dem persönlichen Zeitlimit?

Hm. Ich muss anhalten, um dieses Naturwunder zu fotografieren! Unerwartet kommt mir ein Landsmann zu Hilfe. Jens-Carsten Böttcher bleibt ein kurzes Stück an meiner Seite, bis es sogar von mir eine digitale Erinnerung gibt. Danke! Dass sich die verschenkten Sekunden für den Dessauer in eine Traumzeit von 5:55:55 verwandeln werden, ahnen wir nicht.

Mirko LefflerÜbergangslos ertönen unheimliche Klänge. In einem Pulk sammeln sich über ein dutzend Läufer um einen großen, kräftigen, dunkelhäutigen Mann. Ein Schamane? Seine seltsamen Stoßlaute werden von der Gemeinde im Chor wiederholt. Hinter seinem Rücken ragt eine lange Fahnenstange aus einer Flasche. "6:00" lese ich auf dem Wimpel. Aha, ein Schrittmacher Doch was für ein Typ! "Schaut nicht auf den Berg, schaut auf mich! Ich bin ein Profi…" übersetze ich die beschwörenden Worte, bevor er im Echo seiner Gläubigen vorüberzieht. Nur kurz atme ich die phantastische Aussicht auf die Bucht von Hout Bay und den Atlantischen Ozean ein. Schon warten die ersten "Balkenstationen" mit einem Helferteam auf die "Verkrampften". Weiter! Wer sich unterwegs massieren lässt, hat verloren! Kommt dort der Anstieg zum Constantia Nek? Die Sonne sticht und das Umfeld nehme ich nur schemenhaft wahr. Dennoch höre ich wie aus weiter Ferne immer wieder meinen Namen. Oft garniert mit einem netten "Well done" - "Gut gemacht"!

Doch ich fühle mich gar nicht mehr so "well". Das scheinen auch die Straßenbewohner zu spüren. Erneut wollen mich drei "Katzenaugen" kurz vor der Marathonmarke zu Boden werfen. Diese Biester! Erschrocken sehe ich zu meiner "Zeitmaschine": 4:36:21. Für die letzten zwei Kilometer habe ich satte 17 Minuten gebraucht. Ich bin zu langsam! In meinem Hinterkopf verwandelt sich die ersehnte Bronzemedaille in rostiges Blech. Sechs Stunden sind für mich heute unerreichbar. Und nun? Dann genieße ich dieses Abenteuer eben. Die "Blaue Medaille" ist mir selbst im Wanderschritt sicher! Hoffe ich. Befreit scherze ich mit meinen Kollegen und dem begeisterten Publikum. Was für ein Klima! Egon trippelt neben Alice, Lance und Jetaime. Alle Hautfarben, Altersklassen und Kontinente sind kameradschaftlich vereint. Das ist mehr als ein Symbolbild.

Hier läuft nicht Afrika, hier läuft die Welt! Der Gipfel liegt hinter uns. Bergab! Augenblicklich betrauere ich qualvoll die fehlende Steigung. Aber Kirstenbosch ist nahe! Auf den letzten Kilometern plausche ich mit einem witzigen Franzosen, der extra für dieses Event nach Kapstadt geflogen ist.Verwundert denke ich an meine Paris-Visite. Spricht mein Begleiter wirklich Englisch? Na also, es geht ja doch! Kilometer 54. Vorwärts, jetzt wird durchgezogen! Endlich betreten wir das Rugby Feld der Kapstädter Universität. Die leidenschaftlichen Zuschauer stehen hinter den Werbebannern Spalier und feiern uns wie Sieger. "Germany!", "Mirko go!", "Deutschland!" schallt es über den Rasen. Für ganze 300 Meter bade ich in Glückshormonen - und vergeude keine Sekunde mit einem Sprint. Nach 6:35:22 lacht mich die "Blue Medal" an. Oder aus? Noch bin ich etwas unsicher. Bis die Veranstalter ein Seil vor die Ziellinie spannen lassen.

Sieben Stunden sind vergangen. Und der Strom aus tapferen Kameraden fließt unvermindert weiter. Nur das Durchkommen ist ab sofort unmöglich. Die Absperrung stoppt Frauen und Männer, die länger unterwegs waren und die nun mehr leiden müssen als all ihre Vorgänger: Niemand beachtet sie mehr. Kein Publikum, kein Präsent, keine Notiz. Laut Ergebnisliste werden sie diesen Lauf nicht beenden. Trotzdem machen sie weiter! Ein letztes Mal blicke ich auf meine Medaille. Das mit Farbe aufgetragene Meeresblau erinnert mich wirklich an das Kap der Guten Hoffnung. An jenen magischen Ort, an dem Marianne vor genau sechs Tagen offiziell meine Frau wurde. Nach 14 gemeinsamen Jahren. Plötzlich weiß ich:

Geschwindigkeit ist zweitrangig, solange wir auf dem richtigen Weg sind. Denn nur das ist es, was wirklich zählt.

 
 

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