Wie
ein rastloser Falter gleite ich im Schein meiner Stirnlampe geräuschlos
durch die Dunkelheit, nur begleitet vom rhythmischen
Klopfen aus dem Innern meines linken Schuhes. Der Halbmond, die
Sterne und die Kameraden haben mich verlassen. Kurz muss ich gegen
ein Gähnen ankämpfen. Kann ich dem Reich der Träume
noch entfliehen? Eine große Tafel verkündet "9
°C". Es ist kurz nach 4.00 Uhr. Zuversicht, Freude, Trauer
und über 45 Kilometer liegen hinter mir. Wenigstens der Schmerz
bleibt treu. Plötzlich rauschen die Bilder der verronnenen
Stunden an meinem schlaflosen Geist vorüber: Juni 2008. Freitag,
der 13. Schweiz. Biel. Jubiläumslauf. Überforderte Veranstalter.
Beistand Christian Marx. Gefühlte 2.500 Starter. 22.00 Uhr.
Lachen. Ausgestreckte Kinderhände. "Hopp, Hopp, Hopp"-Rufe.
Ordner in Hollandorange. Imposante Holzbrücke in Aarberg.
Kameradenfoto mit René Gnauert. Feurige Kulisse. Kurzes
Wiedersehen mit Ilka Maria Banatzki, Tatjana Festerling und Brigitte
Zietlow.
20
Kilometer nach 2 Stunden und 20 Minuten. Irritierende
Landluft. Chrissi`s geschwollener Fuß. Sein "Ausstieg"
bei Kilometer 31
.Der Wind kühlt die Erinnerung ab.
Langsam wird es hell. Jetzt laufe ich also für uns. Für
Christian, der nach Biel zurückgefahren wird. Und für
unseren tapferen Uwe Kaiser, der mit einer Verletzung in Suhl
geblieben ist. Ich muss ankommen! Bleichgesichtig grüßt
der Morgen. Wo bleibt die feuerrote Sonne in der ich aufgehe,
die mich erwärmt, motiviert und vorwärts treibt? Als
Antwort trabt mein Berliner Kollege Ralf Beelitz schweigend voran.
Irgendwie fühle ich, dass ich ihn bald nicht mehr sehen werde.
Kirchberg! Das bedeutet Kilometer 56. Nach 7 Stunden und 31 Minuten
naht der glorreiche Ho-Chi-Minh-Pfad. Die Krönung der gesamten
Distanz! Aus dem dunklen Wald sollen bösartige Gewächse
ragen, die schon so manchen Wettkämpfer nach ganz hinten
beförderten. In Gedanken hangele ich sogleich mit Tarnanzug
von Baum zu Baum, um kein Opfer der Wurzelguerillia zu werden.
Die
Leuchte trage ich noch immer auf dem Kopf. Angeblich
findet das Licht hier selbst tagsüber keine Heimat, weil
es so unheimlich und finster ist. Wann beginnt denn dieser Pfad
endlich? Vorsicht! Verwirrt blicke ich zu Boden. Bemooste Wurzeln
blicken unschuldig aus dem Rasen. Dahinter warten Steine auf einem
flachen, erhellten Weg. Immer geradeaus! Enttäuscht packe
ich die Stirnlampe ein. In den vergangenen 50 Jahren wurde diese
Strecke wohl ziemlich beschnitten und verbreitet nun die Aura
eines zahnlosen Krokodils. Behutsam schleiche ich als unterforderter
Rambo über den Naturbelag. Doch unerschrocken huschen jetzt
pausenlos Ultras vorüber. Selbst ein vor Jahrzehnten ergrauter
und seit Stunden humpelnder Schweizer ist mit seinem Fahrradbegleiter
auf der Überholspur.
Ist
mein Akku leer? Ratlos bitte ich um Erlösung.
Unerwartet schwebt ein drahtiger Endfünfziger leicht und
locker vorbei. Ist das meine Chance? Sofort lege ich mich wie
ein Schatten auf jede seiner Bewegungen. Engelsgleich zieht er
mich so aus dem tiefen, unsichtbaren Moor, das mich eben noch
verschlingen wollte. Im Schlepptau überhole ich erneut die
Halbstarken und Scheintoten. Abrupt übergibt sich neben mir
ein Weggefährte. Mitleidig erinnert mich das Geräusch
an die versäumte Bewässerung unseres Gartens. Aber wie
lange kann ich durchhalten? Pünktlich macht der Vordermann
eine Gehpause. Ich habe wirklich einen Glückskeks geöffnet!
Mein Pacemaker, Thomas Waldmann, aus Drestedt, ist ein erfahrener
Biel-Veteran und will erst später "aufdrehen".
Also bleiben wir eine ganze Weile zusammen! Hinter Ichterswil
wartet die nächste Verpflegungsstation.