50. 100 km von Biel am 13./14.06.2008

Text und alle Fotos von Mirko Leffler (email: Photo@photo-perfect.de)


Kilometer 84

Wie ein rastloser Falter gleite ich im Schein meiner Stirnlampe geräuschlos durch die Dunkelheit, nur begleitet vom rhythmischen Klopfen aus dem Innern meines linken Schuhes. Der Halbmond, die Sterne und die Kameraden haben mich verlassen. Kurz muss ich gegen ein Gähnen ankämpfen. Kann ich dem Reich der Träume noch entfliehen? Eine große Tafel verkündet "9 °C". Es ist kurz nach 4.00 Uhr. Zuversicht, Freude, Trauer und über 45 Kilometer liegen hinter mir. Wenigstens der Schmerz bleibt treu. Plötzlich rauschen die Bilder der verronnenen Stunden an meinem schlaflosen Geist vorüber: Juni 2008. Freitag, der 13. Schweiz. Biel. Jubiläumslauf. Überforderte Veranstalter. Beistand Christian Marx. Gefühlte 2.500 Starter. 22.00 Uhr. Lachen. Ausgestreckte Kinderhände. "Hopp, Hopp, Hopp"-Rufe. Ordner in Hollandorange. Imposante Holzbrücke in Aarberg. Kameradenfoto mit René Gnauert. Feurige Kulisse. Kurzes Wiedersehen mit Ilka Maria Banatzki, Tatjana Festerling und Brigitte Zietlow.

Bernd Müller - Blonde (links) & Mirko Leffler20 Kilometer nach 2 Stunden und 20 Minuten. Irritierende Landluft. Chrissi`s geschwollener Fuß. Sein "Ausstieg" bei Kilometer 31….Der Wind kühlt die Erinnerung ab. Langsam wird es hell. Jetzt laufe ich also für uns. Für Christian, der nach Biel zurückgefahren wird. Und für unseren tapferen Uwe Kaiser, der mit einer Verletzung in Suhl geblieben ist. Ich muss ankommen! Bleichgesichtig grüßt der Morgen. Wo bleibt die feuerrote Sonne in der ich aufgehe, die mich erwärmt, motiviert und vorwärts treibt? Als Antwort trabt mein Berliner Kollege Ralf Beelitz schweigend voran. Irgendwie fühle ich, dass ich ihn bald nicht mehr sehen werde. Kirchberg! Das bedeutet Kilometer 56. Nach 7 Stunden und 31 Minuten naht der glorreiche Ho-Chi-Minh-Pfad. Die Krönung der gesamten Distanz! Aus dem dunklen Wald sollen bösartige Gewächse ragen, die schon so manchen Wettkämpfer nach ganz hinten beförderten. In Gedanken hangele ich sogleich mit Tarnanzug von Baum zu Baum, um kein Opfer der Wurzelguerillia zu werden.

Km 17,7 Christian Marx, Rene Gnauert und Mirko Leffler (vlnr)Die Leuchte trage ich noch immer auf dem Kopf. Angeblich findet das Licht hier selbst tagsüber keine Heimat, weil es so unheimlich und finster ist. Wann beginnt denn dieser Pfad endlich? Vorsicht! Verwirrt blicke ich zu Boden. Bemooste Wurzeln blicken unschuldig aus dem Rasen. Dahinter warten Steine auf einem flachen, erhellten Weg. Immer geradeaus! Enttäuscht packe ich die Stirnlampe ein. In den vergangenen 50 Jahren wurde diese Strecke wohl ziemlich beschnitten und verbreitet nun die Aura eines zahnlosen Krokodils. Behutsam schleiche ich als unterforderter Rambo über den Naturbelag. Doch unerschrocken huschen jetzt pausenlos Ultras vorüber. Selbst ein vor Jahrzehnten ergrauter und seit Stunden humpelnder Schweizer ist mit seinem Fahrradbegleiter auf der Überholspur.

Ist mein Akku leer? Ratlos bitte ich um Erlösung. Unerwartet schwebt ein drahtiger Endfünfziger leicht und locker vorbei. Ist das meine Chance? Sofort lege ich mich wie ein Schatten auf jede seiner Bewegungen. Engelsgleich zieht er mich so aus dem tiefen, unsichtbaren Moor, das mich eben noch verschlingen wollte. Im Schlepptau überhole ich erneut die Halbstarken und Scheintoten. Abrupt übergibt sich neben mir ein Weggefährte. Mitleidig erinnert mich das Geräusch an die versäumte Bewässerung unseres Gartens. Aber wie lange kann ich durchhalten? Pünktlich macht der Vordermann eine Gehpause. Ich habe wirklich einen Glückskeks geöffnet! Mein Pacemaker, Thomas Waldmann, aus Drestedt, ist ein erfahrener Biel-Veteran und will erst später "aufdrehen". Also bleiben wir eine ganze Weile zusammen! Hinter Ichterswil wartet die nächste Verpflegungsstation.

Km 73,5 Mit offenem Mund und Schürfwunde über einem Auge liegt ein Leidensbruder wie frisch gefoltert auf seinem Feldbett. Hat sich an diesem Platz ein Drama ereignet? Schon spüre ich meinen linken Fuß, der gerade so stabil ist wie die Währung in Simbabwe. Eine Idee durchbohrt mich. Moment! Ist chemische Schmerzunterdrückung nicht auch eine Art Doping? Dann dürfen die eingesteckten Tabletten heute nur meine Psyche beruhigen. Von außen! Es reicht das Wissen, dass ich ja könnte. Immerhin spart dieses Rennen unbewusst Kräfte. War die Nacht vor allem ein ungewollter Hort der Stille, hege ich auf dem harten Asphalt kaum noch Sprachgelüste. Da ist der Ort Bibern! Bei Kilometer 76,6 verabschiedet sich mein Begleiter, um sich nach 10 Stunden und 56 Minuten komplett umzukleiden.

Kilometer 77Im Schweigemarsch bezwinge ich nun in einer kleinen Gruppe den letzten bedrohlichen Hügel. Hin und wieder schwenkt mein Blick zurück. Wer winkt denn da? Die unglaubliche Brigitte Zietlow hat erneut aufgeholt! Leider bleibt für einen Plausch keine Zeit, denn Brigitte ist kaum zu bremsen. Hinter einer geheim postierten Stempelstelle windet sich der staubige Weg am Ufer der Aare. Überraschend donnern gewaltige Schritte. Werde ich überrollt? Thomas rast vorbei! Schade, aber diese Geschwindigkeit ist für mich Harakiri. Weit vor mir spaziert ein Wanderer im Morgenlicht. Gleich werde ich ihn einholen. Verdammt, ich komme ich nicht näher!

Krieche ich etwa rückwärts auf einer Rolltreppe? Immerhin ist meine Sonnencreme nicht ganz umsonst! Doch ein Gleichschritt klingt in meinen Ohren. Habe auch ich jemanden, der mich als Tempomacher nutzt? Wer kann nur dieses geheimnisvolle Wesen sein? Eine Schnecke? Geschmeichelt blinzele ich nach 500 Metern über die Schulter. Aber da ist Niemand. Hilfe! Brauche ich jetzt eine Zwangsjacke? Schweizer Kinder besänftigen mich mit einer liebevoll eingerichteten Trinkstation. Malerische Brücken führen nun zu Kilometerschild 90. Wie durch ein Wunder kann ich die Mitstreiter vor mir erreichen. So treffe ich auf Bernd Müller-Bonde. Und wir beschließen, den Hunderter zusammen zu beenden. Egal wie, denn auch dem sympathischen Pörlitzer fallen die übrigen Kilometer nicht leicht, seitdem gemeine Blasen in seinen Strümpfen eine wilde Party feiern. Vor uns neigt sich plötzlich ein Gefährte mit zitronengelbem Leibchen immer weiter nach links. Im Vorwärtsgehen!

Mirko Leffler im ZielDer schiefe Turm von Pisa hat soeben seinen Meister gefunden. Doch es reicht nicht für einen Eintrag, weil der Rekordversuch im Gras endet. Da muss selbst der gestrauchelte "Don Campanile" schmunzeln! Kilometer 99. Jetzt gilt es! Unsere gegenwärtige Wunschzeit kann nur noch mit einer finalen Hatz gerettet werden. Ohne Kommando zieht Bernd an und ich folge mutig. Doch es ist kein Ende in Sicht, denn Todgeplagte sprinten länger! Klatschendes Publikum säumt die restlichen Meter. Kurz vor dem Zieleinlauf höre ich Töchterchen Joy, meine Frau Marianne und Freund Christian jubeln. Spontan reiße ich mein Deutschlandtuch herunter, schreie und winke bis die Uhr bei 14:55:39 stoppt. Es ist tatsächlich vollbracht! Strahlend bedanke ich mich bei Bernd, umarme meine Lieben und empfange ohne Medaille und Finishershirt die wertvollste Ernte dieses Laufes: Wo auch immer wir verwurzelt sind - nichts verbindet uns stärker als ein gemeinsames Ziel!

 

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