"Was kann ein Körper eingentlich leisten..."

3. Caracas Marathon
24.02.2013

Bericht von Peter Maier


Mit Micha, meinem Freund besonders für exotische Abenteuer, unternahm ich einen Trip nach Vene-zuela. Damals unter Präsident Chávez nicht gerade ein "sicheres" Land, hatten wir uns aber ein kleines Programm zusammengestellt. Wir kamen am 21.02. in der Hauptstadt Caracas an und bezogen im Hotel Eurobuilding unser Quartier, nachdem der erst Teil des Puzzles, der Transfer ab Flugplatz mit unserer Guide Esperanza, prima geklappt hatte. Für den 22.02. hatten wir eine Halbtages-tour durch die ca. 5 Millionen Metropole Caracas geplant. Da Caracas verkehrs-technisch völlig überfordert ist, gingen wir zu Fuß bzw. fuhren mit der Metro. Etwas wirklich historisches hier finden zu wollen, ist schwer, denn Caracas ist durch die ca. alle 50 Jahre wiederkehrenden Erdbeben stark gebeutelt.

Der alte Stadtkern ist klein und übersichtlich. Überall sieht man Spuren von dem größten Sohn der Stadt, von Simón Bolívar. Bolívar führte ab 1810 die südameri-kanische Unabhängigkeits-bewegung gegen die spanischen Kolonialherren in den heutigen Staaten Venezuela, Kolumbien, Panamá, Ecuador, Peru und das nach ihm benannte Bolivien an.

Esperanza sagt uns, dass es nicht lange her ist, dass solche "Hellhäutigen" wie wir selbst am Tage hier als "Gringos" mindestens ausgeraubt worden wären. Wir schlendern auf den stimmungsvollen Haupt-platz Caracas', dem "Plaza Bolívar". Inmitten des Platzes, wie sollte es anders sein, steht ein Denkmal von "IHM" (Foto) . Kämpferisch blickt Simón Bolívars Reiterstandbild auf die Kathedrale, den Erzbischöflichen Palast, den "Consejo Municipal" (das Rathaus), das "Capitolio Nacional" (in dem bedeutende Venezolaner bestattet sind), die "Gobernación" (der Sitz der Regierung des Distrikts) und die "Casa Amarilla", die den Platz umgeben (Fotos). Esperanza entließ uns am großen Einkaufszentrum Tolon, von wo aus wir ins Hotel zurücklaufen wollten. Aber weit gefehlt. Das Wirrwarr der Straßen und die dazu fehlenden Straßennamen brachten uns zur Verzweiflung.

Plötzlich waren wir in einem völlig anderen Stadtteil, in San Roman. Aber irgendwie fanden wir doch noch den Rückweg und quälten uns in der Nachmittagshitze ins Hotel zurück. Der Samstag war nur fürs faulenzen verplant. Nebenbei besuchten wir natürlich die Marathon-messe und holten unsere Startunterlagen. Entsetzt stellte ich dabei fest, dass unser Hotel ca. 8 km vom Start und Ziel entfernt war, nicht wie ich eigentlich gebucht hatte, fast direkt daneben. Aber die Marathon-Expo samt ihrer Engelchen (Foto) war Spitze, bemerkenswert für den erst 3. Caracas Marathon. Es war bald gegen 18 Uhr dunkel und das bedeutete für uns "Ausgehverbot"! Wir blieben im Hotel, aßen Abendbrot und gingen zeitig zu Bett. Nachts plötzlich hatte ich mehrmals Schweißausbrüche und Durchfall. Anfängerrespekt vor einem Marathon? Quatsch, Junge, aber was ist los? Marathontag, der 24.02.2013: Durch 3(!) Wecker und den "Wake up Call" um 4:30 Uhr aus dem Bett geworfen, trollten sich Micha und ich zur Hotelrezeption. Geplant mit dem Taxi zum Start zu fahren, stand jedoch noch ein Marathonbustransfer vor dem Hotel, wir huschten hinein, so ein Glück! Es war noch dunkel im Parque Los Caobas, dem Startareal, aber was für ein Gewimmel von Menschen (Foto).

Ich sog diese geile Atmosphäre von sportlichen Menschenleibern und den tollsten Gerüchen um sie herum in mich auf, ich war wie aufgedreht.

Ich war wieder da! Wir hatten noch Zeit, 6 Uhr sollte unser Start sein, 15 Minuten später der für die "Halben". Micha (im Foto links neben mir) blieb ganz cool! Er wollte wegen Trainings-defizites locker ca. 4:15 h laufen, während ich "heiß" war auf ca. 3:50 h. Es war ein großes Starterfeld, hier in Caracas, in Venezuela, in Latein-amerika, um uns herum insgesamt über 8000 Läufer und davon über 50 Prozent, die erstmals eine der zwei Strecken in Angriff nahmen…plötzlich, genau 6 Uhr, der Startschuss. Schnell ein paar verwackelte Fotos und schon liefen wir in Richtung Westen. Ich dachte so an einen reichlichen "5 er Schnitt", den ich laufen wollte. Es war noch immer dunkel, aber schon nach den ersten 5 km, die ich in 27:34 min durchlief, wurde es schnell hell.

Die Straßen waren sehr gut abgesperrt, es waren ja auch über 2500 Sicherheitskräfte an der Strecke.Getränke gab es alle 2 bis 3 km, vorzüglich! Das war schon Spitze, so hatte ich das nicht erwartet, einfach toll!

Da Caracas bekanntlich nicht so viele Sehens-würdigkeiten hatte, gab es so interessantes nicht zu sehen. Also sah ich mir die Menschen an (Foto) und das wurden einfach immer mehr am Straßenrand! Die 10 km in 54:15 min durchlaufen, war ich voll im Plan. Micha war weit hinter mir, schade. Locker schaue ich zu zwei Engelchen (Foto oben) rüber. Da, plötzlich, genau bei km 17, ein Schwächeln im Körper, was ist das? Im gleichen Moment umschlingen säuselnde Lianen meine Füße und legen mir so Fußfesseln an. Frotzelnde Dämonen setzen sich auf meine Schultern. Ich scheine zu stehen, komme nicht mehr vorwärts. Ich keuche, will mich losreißen. Wildes Gelächter aus der Unterwelt um mich herum. Wo ist mein Talisman, meine Halskette, mein Tutanchamun???

 

Aus Sicherheitsgründen hatte ich ihn in Deutschland gelassen…ich muss jetzt allein durch, aber es geht nichts mehr. Aus! Vorbei! Erstmalig lässt mich meine sonst so starke mentale Seite im Stich, was ist hier nur los, ich versteh die Welt nicht mehr…"Venga, venga"…lauf, lauf, rufen sie mir zu, die Zuschauer am Straßenrand entreißen mich der Hölle. Aber diese wahnsinnige Schwäche bleibt. Nur in kurzen Momenten nehme ich die monumentale Denkmal-anlage Paseo Los Próceres bei km 18 wahr (Foto). "Oh, Gringo", What's the matter"? "No, no Gringo, soy Alleman", kommt es mir trocken über meine aufgeplatzten Lippen.

Viel zu viel mit mir zu tun, sah ich kaum etwas um mich herum. Plötzlich war Micha da. Er kam wie Phönix aus der Asche, sah mich Häufchen Elend und verabschiedete sich nach vorn. Ihm zu folgen war unmöglich. Ich brauchte für die nächsten 5 km nun plötzlich ganze 37 Minuten, unglaublich, welcher Fluch lastete seit km 17 auf mir? Meine Qualen zu beschreiben, wäre grauenhaft, ich lasse es lieber.

Ich weiß nur noch, dass ich Halluzinationen hatte, ich sah immer öfter Micha vor mir, mal als Läufer, als beuteltragende Hausfrau, als schimpfender Mann: Bin ich irre geworden? Ich weiß es nicht mehr, sehe aber trotzdem schemenhaft ein paar Engelchen mit sehr ausgeprägten Proportionen vor mir. Sie holen mich für einen Moment in die Wirklichkeit zurück (Foto). Und jetzt endlich, da, das 40 km-Schild, wie mir dort ein Lächeln gelang, weiß ich nicht mehr. Die letzten 5 km bis hier hin war ich nur noch in genau 40 Minuten getorkelt. Irgendwo muss das Ziel sein, irgendwann werd ich ankommen und wenn es morgen ist. "Venga, venga" - rufen wieder die vielen Zuschauer. Gequält und gedemütigt schleppe ich mich in 4:48:27 h durchs Ziel. Trotzdem mache ich noch ein paar Zielfotos (Foto) und gehe zum Treff mit Micha.

Ab in den Bus und ins Hotel, Duschen und ins Bett. Jetzt finde ich Ruhe. Im nachherein erkenne ich, dass der 3. Caracas Marathon eigentlich ein Wahnsinnsevent war, alles war perfekt organisiert gewesen. Die Strecke war verkehrsfrei, alles asphaltiert, jede ca. 2 km gab es Getränke, später süßes Gebäck, liebevolle Zuschauer säumten die Straßen.

Es fehlte einfach an nichts für die über 8000 Läufer. Nur leider hab ich davon eben fast nichts mitbekommen… Nach dem Marathon fast nur im Bett geblieben, war am nächsten morgen um 4 Uhr wieder zeitiges Wecken angesagt, um den Innlandflug in die Anden, nach El Vigia zu chartern. Unsere neue Guide in El Vigia erklärte uns, was wir alles in den nächsten 4 Tagen in den Anden sehen würden und so begann für Micha und mich eine sehr interessante Zeit. In der Hacienda "El Carmen" fanden wir für einige Momente eine himmlische Ruhe, ehe wir das malerische Andendorf Jaji besuchten. Nach Übernachtung in unserer Pasada in Mérida, der Hauptstadt des Bundesstaates Mérida, was geprägt ist durch seine Tallage im Andenhochland, besuchten wir dort eine farbenprächtige Markthalle (Foto).

Weiter fuhren wir in den Nationalpark Sierra de la Culata (Foto) und unternahmen in 3000 m Höhe einen angenehmen Spaziergang. Wieder zurück in Mérida stand eine Stadtinspektion auf dem Programm, zu sehen u. a. schöne alte Kolonialhäuser oder die Kathedrale.

Auf dem Weg zu unserer Pasada tankten wir das Auto auf. Und hier das Unglaubliche: 1 Liter Benzin kostete umgerechnet weniger als einen Cent, genauer 0,097 Bolivares (also 0,57 Cent). Damit haben wir für 14,28 Liter 1,39 Bolivares bezahlt, das sind 8 Cent (!) nach Schwarzmarktpreisen. Um alles aber wieder ins Lot zu stellen, ein Liter Milch kostet knapp ein Euro…irre!

Nach der zweiten Nacht in unserer Pasada sollte es nun in die Hochanden gehen. Faszinierend war u. a. das mit 3140 m höchst gelegene Andendorf San Rafael. Dort besuchten wir die bekannte Kapelle, welche von Juan Félix Sánchez Juan erbaut wurde . Weiter ging der Weg nach oben über Passstraßen auf über 4000m Höhe! Und dann waren wir am Adlerpass, auf 4118 m Höhe am Pico El Aguila (Foto). Ein "Kondolenz-besuch" beim letzten dort lebenden Condor ließen wir uns nicht nehmen (Foto). Nach einem Zwischenstopp und einer einstündigen Wanderung im Nationalpark Richtung Laguna Negra, kamen wir abends nach abenteuerlicher Fahrt wieder in Mérida an. Am nächsten Tag hieß es Abschied nehmen von den Anden.

Wir fuhren wieder nach El Vigia und flogen von dort in einer fürchterlich unterkühlten kleinen Maschine nach Caracas zurück. In einem miesen Absteigehotel nahe Caracas übernachtet, trollten sich Micha und ich nächsten Tages wieder nach Deutschland zurück. Zu Hause angekommen, schleppte ich mich zum Notarzt, der dann eine schwere Angina feststellte. Das also war der Auslöser meines körperlichen Zusammen-bruchs beim Marathon gewesen… Es war ein erlebnisreicher Urlaub in Venezuela gewesen. Die Marathonveranstaltung in Caracas war Spitze, ist ein MUSS für sportliche Abenteurer. Aber man sollte jetzt die Zeit "nach" Präsident Chávez beobachten. Caracas selbst ist noch zu gefährlich. Aber wenn die Zeit reif ist, die Sicherheit für Touristen halbwegs gegeben ist, sollte man dieses schöne Land unbedingt besuchen.

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