ES
IST SO GEWESEN. NUR NICHT GENAUSO. Farbenfroh grüßt
das Plakat von der Litfaßsäule. Großbuchstaben
neben einem fragenden Gesicht. Werbung für das Staatstheater.
Ist das schon Kunst? Bestimmt. Denn ich verstehe den Satz nicht.
Aber es gibt Schlimmeres! Denn wir sind im documenta-Zentrum.
Und da ist eben alles anders. An diesem Sonntag, dem 10.Juni 2007.
Fünf Tage vor Eröffnung der 12.Weltkunstschau lockt
eine spannungsvolle Premiere. Der E.ON
Mitte Kassel Marathon! Es ist kurz vor 8.30 Uhr. Vor dem
Countdown öffnet sich der Himmel. Gefühlvoll landet
ein Fallschirmspringer vor dem ersten Startblock. Sogleich schweben
unzählige rote Luftballons der Sonne entgegen. Alle klatschen.
Wir auch. Das Fieber hat uns erfasst! Die letzte kameradschaftliche
Umarmung. Viel Erfolg! Und schon werden meine Gefährten Christian
Marx und Lars Unbehaun von der Menge verschluckt. Irgendwo weit
vor mir. Lars läuft mit einem Handicap. Leichte Brustprellung.
"Ich darf nur nicht lachen", sagt er. Lachend. Dass
uns dieses bald vergehen soll, wissen wir noch nicht. Einsam bleibe
ich zurück. Ganz alleine mit Hundertschaften von Individualisten,
die sich um die erwählten Zugläufer scharren.
Um
die Bestzeitmaximierung geht es heute. 3:45:00 heißt das
Ziel. Für Christian und Lars. Bei der prophezeiten Wärme?
Nichts für mich. Darum muss ich hier bleiben. 4:00 steht
auf den gelben Luftballons, die am Hemd meines Vorläufers
festgeknotet sind. Rechts neben mir trippelt eine Dame mit fortgeschrittener
Reife. "Legenden sterben nicht im Bett" lese ich auf
ihrem Basecap. Will sie heute etwa ernst machen? Prompt muss ich
an die zwei Kollegen vom diesjährigen Karstadt Ruhr-Marathon
denken. Ob deren himmlischer Zieleinlauf auch so angekündigt
wurde? Warm genug ist es ja - schon jetzt. Los geht`s! Drei Minuten
sind es bis zur Startlinie. Meiner Natur widerstrebend habe ich
mir soeben ein Schweigegelübde auferlegt. Keine Kraft verschenken!
Stattdessen lausche ich lieber den Kommentaren meines Zugläufers.
Als sein Schatten. Der erste Wasserpunkt wird von ihm jedoch einfach
ignoriert. Ich bleibe dran. Zwei Runden und knapp 200 Anstiegshöhenmeter?
Null Problem! Kilometer 5. Der Puls ist zu hoch. Fast 90 Prozent
zeigt der "Tacho" an. Mein Herz arbeitet wie ein deutscher
Hochleistungsmotor. Nach Ablauf der Garantie. Beißen! Nach
55 Gesamtminuten sind wir bei Kilometer
10.
Noch
ist alles möglich! Cheerleader, Trommler und jubilierende
Zuschauer fliegen vorbei. Tut mir leid, keine Zeit! Wortlos und
schmallippig eile ich davon. Kommt nun der Hammer? Ein riesiges
Fachmarktschild kündigt ihn an. Die Erde brennt. Mir ist
heiß. Ich werde langsamer und lasse meinen Tempomacher ziehen.
Seine Ballons entschwinden am Horizont. Lebe wohl! Wieso stand
auf deinem Shirt eigentlich auch "Bremsläufer",
wenn du nie wartest? Langsam befürchte ich, dass es nicht
mehr um die Bestzeit geht, sondern um`s Überleben. Sofort
höre ich ein Läuten. Immer lauter. Sind das Totenglocken?
Vom Friedhof? Unerwartet entdecke ich sie: die beiden Türme
der St. Martinskirche. Standhaft trotzen sie den mörderischen
Temperaturen. Beinahe mitleidig blicken sie auf mich herab. Sofort
ist mir, als schleppe ich mich zur eigenen Beerdigung. Laufen!
Bei
Kilometer 19 liegt eine junge
Frau. Wie Rotkäppchen. Auf einer Decke, neben dem Steinpflaster,
hat sie es sich mit Kaffee und Kuchen gemütlich eingerichtet.
Fernsehen in neuer Dimension. Genussvoll liegt sie in der ersten
Reihe. Wehmütig hechele ich mit den anderen Gladiatoren vorbei.
Und schaue ein wenig grimmig. So wie Jakob und Wilhelm vom letzten
1000 DM-Schein. Auch die Gebrüder haben ja viel Zeit in Kassel
verbracht. Ich möchte dennoch nicht so lange bleiben. Schaue
zur Uhr. Horche in mich hinein. Laufe ich mir gerade einen mentalen
Wolf? Stimmen mahnen. Aus meinem Kopf. "Es ist zu warm. Unter
4 Stunden? Vergiss es! Wozu dann weitermachen? Nach der Runde
hörst du auf. In 3 Kilometern! Denk` an deinen rechten Fuß."Leffler`s
geben niemals auf!" habe ich meiner 11jährigen Tochter
vor ein paar Tagen überzeugend mit auf den Schulweg gegeben.
Und nun?