Der
Startschuss fällt gegen 6:30. Ich stehe nicht
ganz vorn (bis ich über die Startlinie fahre, vergehen einige
Minuten) und fange eher "gemütlich" an. Die letzten
2 Wochen konnte ich aus verschiedenen Gründen nicht trainieren,
so heisst mein Ziel heute: Durchhalten, auf keinen Fall aufgeben.
Bei dem Sauwetter vor 2 Jahren musste ich mit meiner viel zu leichten
Kleidung schon nach 25 km aufgeben und habe mir damals geschworen:
Das passiert Dir nie wieder. Die Taktik ist auch klar: die Kräfte
so einteilen, daß auf dem Jaufenpass "der Ofen"
noch nicht aus ist. Nach ca. 45 Minuten (30 Kilometer) bin ich in
Ötz angekommen, hier fängt das Rennen, nachdem es bis
jetzt nur bergab ging, erst richtig an. Die ca. 20 km bis zur Höhe
von 2020 Metern sind nicht leicht, ganz im Gegenteil - es gibt sogar
Stücke mit Steigung bis 18% (Foto oben, Quelle: Hernolds
Rasportseiten). Aber am Anfang des Rennens merkt man das noch
nicht so. Ich fahre locker hoch, Kräfte schonend meistens mit
dem kleinsten Gang. Kurz vor der Passhöhe gibt es eine Foto-Stelle,
hier heißt es: Brust rausstrecken und lächeln. An der
Verpflegungsstelle auf dem Kühtei herrscht ein ziemliches Gedränge,
ich lasse mir hier Zeit, esse und trinke in aller Ruhe. Allerdings
kühlt man bei Temperaturen um 8 Grad, Regen und Wind schnell
ab.
Jetzt kommt die rasante Abfahrt. Schon nach
100 Metern merke ich, dass ich sie allein mit der Weste und den
normalen Handschuhen nicht "überlebe". Es
zieht fürchterlich, mich schüttelt es vor Kälte am
ganzen Körper. Ich halte noch einmal an und ziehe
meine Regenjacke ("Gott sei Dank hast Du sie mitgenommen"
- denke ich) und die langen Handschuhe an. Uff, jetzt ist es viel
angenehmer. Aber mit Tempo 90 Km/h - wie bei der Kühteiabfahrt
sonst üblich - ist heute nichts. Bei der nassen Fahrbahn wäre
es viel zu gefährlich. Zumindest für mich. Viele fahren
wie die "Gesengten" und überholen mich auf dem 23
km langen Abschnitt. "Wartet nur bis der Jaufenpass oder spätestens
der Timmesjoch kommt, da sehen wir uns wieder" - tröste
ich mich und lasse sie ziehen.
Nach 84 Km, kurz vor 9:00 Uhr erreiche
ich Innsbruck. Es regnet immer noch, es ist aber wieder etwas wärmer.
Jetzt muß ich anhalten und die Regenjacke und die langen Handschuhe
ausziehen. Das kostet wieder etwas Zeit, ist aber egal. Wir fahren
ein Stück durch die Stadt, dann geht es auf die Bundesstrasse
182 Richtung Brennerpaß. Links sehe ich die berühmte
Bergisel-Schanze,
hier hat bei der letzten Vierschanzen-tournee Jane Ahonen gewonnen,
in den Jahren zuvor Sven Hannavald aber auch "mein Adas",
also Adam
Malysz. Wer mich kennt weiß, wie sehr ich
Skispringen
liebe. Und wenn "Adas" bei einem Weltcup-Springen gewinnt,
ist mein Jubel-Geschrei meistens in unserer ganzen Siedlung zu hören.
"Hallo,
Deine Startnummer hast Du viel zu weit oben angebracht" - spricht
mich auf einmal Jemand freundlich auf Polnisch an. "Du verstehst
doch polnisch, oder? - fragt er kurz danach, als ich nicht sofort
antworte. Ich bin gar nicht so sehr überrascht, schließlich
steht mein eindeutig polnischer Name auf der Startnummer und dazu
habe ich ja mein "Polish-Post"-Radtrikot an (Foto). "Klar"
- sage ich. "Mit der Startnummer - na ja, ich habe sie schon
mal umgehängt, ursprünglich war sie noch viel höher,
da hat man sie unter der Weste hervor gar nicht richtig erkennen
können". Wir schwatzen noch ne Weile über dies
und jenes, der Junge kommt mir irgendwie bekannt vor. Er erzählt
schließlich, dass er gerade aus Gdansk kommt und ständig
in Italien lebt. Gdansk, Italien? "Bist Du 2002 auch dabei
gewesen?" "Jaaa, da war ich auch dabei, sagt er nach kurzem
Zögern, damals habe ich auch zwei Polen getroffen". "Einer
davon war ich" - sage ich und lache. Jetzt kann auch er sich
wieder an mich erinnern. Wir sind damals zu Dritt fast den gesamten
Anstieg zum Jaufenpaß im flotten Tempo gefahren. So gut war
das aber auch nicht. Wir haben viel geredet und sind dabei viel
zu schnell gewesen. 3 Km vor dem Pass war ich "platt"
und musste mich die gesamte restliche Strecke, vor allem bei dem
Anstieg zum Timmelsjoch, furchtbar quälen. Diese Bilder habe
ich immer noch genau vor meinen Augen. Also Vorsicht! Piotr ist
zwar ein ganz netter Kerl aber jetzt muss Du ihn loswerden, sonst
ist Deine ganze Taktik "im Eimer". Er hat aber offenbar
ähnliche Gedanken, denn er beschleunigt und fährt davon,
ohne sich nach mir umzuschauen und nach einigen Minuten verlieren
wir uns aus den Augen. Ich fahre mein Tempo weiter, nicht zu schnell
aber auch nicht zu langsam.
Wir
passieren Matrei, Steinach, Gries und die Verpflegungsstelle am
Brenner, wo ich mir wieder genügend Zeit lasse und - seit dem
Arber-Radmarathon an die gewaltige Wirkung von Coffein glaubend
- ein Cola-Becher nach dem anderen trinke. Jetzt folgen die herrliche
Abfahrt Richtung Sterzing und danach auch kurzes Flachstück
Richtung Jaufenpaß. Ich sehe auf einmal viele Fahrer am Straßenrand,
die ihre Jacken und Westen ausziehen. Ein sicheres Zeichen dafür,
daß der Aufstieg zum Jaufenpass unmittelbar bevorsteht. Wie
schon am Kühtei schalte ich auf den kleinsten Gang und fahre
"gemütlich" hoch, immer in meinem gleichmäßigen
Tempo. Allerdings überhole ich hier viele und werde nur selten
von stärkeren Fahren selbst überholt. Ein Gedanke beschäftigt
mich dabei ständig: "Du musst bis zum Jaufenpass kommen,
ohne kaputt zu werden". Wenn "der Hammer" kommt,
wird es danach sehr, sehr schwer. Es läuft aber ganz gut. Der
Anstieg ist scheinbar endlos, das wusste ich aber vorher
ganz genau. Die letzten Kilometer sind erreicht, jetzt folgt das
waldlose Stück, wo man den Rest der Strecke bis zum Gipfel
gut überblicken kann. Hier bin ich vor 3 Jahren "gestorben".
Aber heute geht es mir noch ganz gut. Also schön locker bleiben,
es ist nicht mehr weit. Schließlich sind wir auf dem Gipfel.
Hier ist es frisch aber, wie schon die ganze Zeit ab dem Brenner,
also auf der italienischen Seite, trocken und teilweise sogar sonnig.
Die Weste reicht für die Abfahrt, ich muss mich nicht umziehen.
Ich halte noch an der nächsten Verpflegungsstelle an und trinke
wieder literweise das Cola-"Zaubertrank". Danach folgt
die schöne und rasante Abfahrt bis St. Leonhard. Immer wieder
überkommt mich dieses sonderbare Glücksgefühl, das
viele Ausdauersportler kennen, wenn sie nach vielen Stunden ins
Ziel kommen. Ich bin zwar noch lange nicht im Ziel aber fühle,
daß ich es heute ganz gut schaffen werde. Mir
kommen die Tränen, hin und wieder muss ich fast heulen.
Die Abfahrt ist geschafft. Jetzt,
"nur noch" das letzte Stück. Eine Kleinigkeit von
ca. 25 Kilometern mit Steigungen zwischen 7 und 14 Prozent. Die
ersten 3 Kilometer sind allerdings etwas leichter. Hier spricht
mich wieder die bekannte polnische Stimme an. "Da sind wir
wieder beisammen" - denke ich mir. Aber, ob das gut geht, wenn
wir zu viel "quatschen"? Von hinten fährt ein Italiener
zu uns heran und fragt etwas auf Italienisch. Ich verstehe kein
Wort aber mein "Freund" Piotr kann sich mit ihm angeregt
unterhalten. Ich nutze die Gelegenheit und lasse mich zurückfallen.
"Fahrt schon vor" - sage ich - "ich muss meine Weste
ausziehen". Inzwischen ist es richtig warm (so um 17 Grad)
geworden und ich fange an, zu sehr zu schwitzen. Ein paar Kilometer
weiter übehole ich Piotr , wenig später den Italiener.
Mir geht es immer noch ganz gut, bei den Beiden ist offenbar langsam
der Ofen aus. "Gut gemacht "- klopfe ich mir in Gedanken
auf die Schulter und meine damit meine Kräfteeinteilung. Da
ist schon das erste steile, etwa 8 Kilometer lange Stück zu
Ende, jetzt wird es etwas flacher. Es kommt die nächste Verpflegungsstelle
in Schönau, die ich wieder zum Ausruhen und "Dopen"
mit Cola nutze.
Danach
wird es aber immer schwerer. Noch 10, noch 8, noch 6 Kilometer.
Seeberalm - die letzte Verpflegungstelle. Ab hier folgt das letzte,
schlimmste Stück des gesamten Marathons. Mit Steigungen von
8-14% und immer weniger Kraft in den Beinen wird dieses Stück
zur Qual, die Geschwindigkeit fällt stellenweise bis auf unglaubliche
7 Kmh herunter. Meine Knie beginnen zu schmerzen. "Durchhalten,
nicht stehen bleiben". Eine Kehre, noch eine und noch eine.
Ich überhole den Einen oder Anderen, werde aber selber auch
hin und wieder überholt. Hier ist keiner mehr frisch, alle
pfeifen aus dem letzten Loch. Ich fahre jetzt fast nur noch im Wiegetritt,
so ist es etwas leichter. Mann, wann ist
der Anstieg endlich zu Ende? Ich traue mich kaum, auf die
Km-Anzeige meines Geschwindigkeitsmessers zu schauen. 200 km sind
längst vorbei, wir sind jetzt bei Km 208. Noch 2 km bis zum
Pass - lese ich auf einem Schild, 2 Kilometer die Einem wie die
Ewigkeit vorkommen. "Das ist mein
letzter Ötztaler" - beschließe ich -
endgültig und unumkehrbar,
nochmal tue ich mir diese Qualen nicht
an!" In der Ferne sehe ich den Timmelsjoch-Tunnel.
Endlich! Danach ist das Rennen fast vorbei. Als wir aber auf dem
Timmelsjoch, auf einer sagenhaften Höhe von 2504 M, ankommen,
ist es so neblig, daß man kaum etwas sehen kann. Dabei ist
es kalt und es zieht "wie Atze". Ich ziehe wieder meine
Colibri-Jacke und die langen Handschuhe an. Dabei
muss ich an meinen Freund, den "Obertroll" Peter denken,
den es hier vor 3 Jahren (oder war das 2000? Ich weiss es nicht
mehr genau) an dieser Stelle ganz schwer mit Hagel und Gewitter
erwischte und der dann wie ein Häufchen Elend im Ziel ankam.
Ich war damals etwas schneller und konnte den Pass noch bei strahlendem
Sonnenschein passieren, bevor das Wetter umschlug. Seitdem hat Peter
die Lust am "Ötzi" verloren, ich konnte ihn leider
auch dieses Jahr nicht zu seiner dritten Teilnahme überzeugen.
Zurück zum Rennen. Jetzt heißt
es: Auf zum letzten Kampf! Aber wie soll ich
hier abfahren, wenn ich in diesem dichten Nebel nichts sehe?
Mit ständig angezogenen Bremsen fahre ich langsam hinunter
und wundere mich über diejenigen, die wie Blitze - so kommt
es mir zumindest vor - an mir vorbeiziehen. "Soll ich ihren
Mut bewundern oder über diesen Leichtsinn den Kopf schütteln?"
Egal, ich selbst will jetzt nichts mehr riskieren. 210 Kilometer
und damit fast der ganze "Ötzi" sind geschafft, ich
werde auf den letzten 28 Kilometern nichts mehr riskieren.
Wer aber glaubte, ab dem Timmelsjoch
geht es nur noch bergab, wird nach ein paar Kilometern Abfahrt schwer
enttäuscht. Ein letzter, etwa 2 Kilomter langer Anstieg zur
Mautstelle steht uns noch bevor. Für mich noch die Gelegenheit,
diejenigen, die mich gerade im Nebel überholt habe, nochmal
einzufangen. Nach der Mautstelle ist es geschafft, ab hier ist auch
der Nebel schlagartig weg. Noch die letzten schnellen Kilometer
und nach 10:37:39 bin ich endlich im Ziel!
Der Sieger Christian Ceralli aus Italien
brauchte 7:12:59, die beste Frau Anna Corona, ebenfalls aus Italien,
8:12:09 und ich konnte nicht einmal die 10h-Grenze unterbieten.
Na und? Mit Platz 1279 habe ich immer noch mehr als 2000 Starter
hinter mir gelassen.
Ich hole mir mein Finisher-Trikot
und einen Pin (so eine Art Medaillen-Ersatz) ab und gehe in meine
"Sonnen-Villa Anna", um mich etwas zu erholen. Als ich
nach einem einstündigen Schlaf wieder aufwache, ist mein erster
Gedanke: " Wie war das gleich mit dem letzten Ötzi? Unsinn,
nächstes Jahr bin ich wieder dabei!"
Der nächste Traum hat soeben begonnen! Nach 1997, 2000, 2002,
2003 (aufgegeben) und 2005 wird das bereits mein sechster sein.
Der Ötztaler Radmarathon ist
halt "die beste Wahl zur ultimativen
Qual" - wie die "Tiroler
Zeitung" am nächsten Tag schreiben wird.
Als ich am Montag, dem 29.08.05 Sölden
verlasse, herrscht ein herrlicher Sonnenschein (Foto unten rechts)
und die Temperatur beträgt 25 Grad. Schade, daß dieser
Wetterwechsel einen Tag zu spät kommt. Aber vielleicht ist
das ein gutes Zeichen für nächstes Jahr.
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