Na also. Gehört
alles zum Plan. Die nächste Erhebung kommt näher. Vor
mir sehe ich plötzlich 2 riesige Mischbrote. Sind meine Kohlenhydratspeicher
etwa schon leer?Nein, alles in Ordnung. Ich schaue noch einmal hin.
Dort, wo Läufer normalerweise Waden haben, türmen sich
Muskeln wie Teigwaren. Das gibt`s doch gar nicht. Ist aber wirklich
so. Denn die dünnen Arme meines Vordermannes gleichen das ungewöhnliche
Gesamtbild wieder aus. An den ständigen und nach einer gewissen
Weile irgendwie interessanten Schmerz aus meinem rechten Schuh habe
ich mich mittlerweile gewöhnt. Erstaunlich, was so ein Körper
alles aushält, denke ich bei mir. Oder sind das erste masochistische
Anzeichen? Aber ich darf beruhigt sein, es soll bald schlimmer kommen.
Immer öfter
werden wir jetzt von flinkeren Rennsteigläufern überholt.
Komisch, so langsam sind wir doch gar nicht. Bestimmt will die Mehrzahl
auf der Überholspur einen letzten Sprint für das Foto-Finish
am nahenden Grenzadler einlegen, um mit Bestzeit auszusteigen, tröste
ich mich. Kilometer 54,2. "Du
bist zu spät!" ruft Martina, meine Maklerkollegin, und
winkt mit einem selbst gebastelten Transparent, dass vor über
einer Stunde ihren schon längst enteilten Partner Michael Recknagel
motivierte. Nur gut, dass ich von Micha`s Vorsprung noch nichts
ahne. Auch meine armen Eltern stehen seit einer Ewigkeit in der
prallen Sonne an der Thüringer Hütte, um uns moralischen
Beistand zu leisten. Dass der Junge nicht pünktlich sein kann!
De facto hinkt meine Istzeit soeben 26 Minuten hinterher. Schnell
wird das schönste Fotolächeln aufgesetzt und ein Abschiedsküsschen
von der Mama, die unsagbar stolz auf ihren tapferen Sohn ist, mitgenommen.
Nur noch
18,5 Kilometer! Ich telefoniere mal eben mit Uwe, der
sich schon bis auf eine Stunde an den Grenzadler herangekämpft
hat und als wahrer Karnevalist später nach 11 Stunden und 11
Minuten im Ziel sein wird. Schmiedefeld muss unter 2 Stunden und
10 Minuten zu schaffen sein. "Fahrt schon mal los, Christian
und ich werden vor 15.00 Uhr ankommen!" dirigiere ich meine
kostbaren Daheimgebliebenen per Funk euphorisch. Das Gespräch
ist beendet, doch von meinem Freund nichts mehr zu sehen. Stein
16. Wie oft bin ich im Training eigentlich schon hier gewesen? Ich
schreie erschrocken auf. Allerdings nur innerlich, denn Wanderer
kreuzen meinen schweren Weg. Was ist mit mir? Dutzende Messer haben
sich über meinen Knien in die Oberschenkel gebohrt. Zumindest
fühlt es sich so an. So etwas hatte ich ja noch nie! Eine ganz
neue Grenzerfahrung. Ich bleibe stehen. Es wird nicht besser.
Aufgeben?
Niemals! Ich denke an einen Artikel, den ich vor einer Woche über
Mentaltraining gelesen habe. Den Schmerz beim Laufen lokalisieren
und mit einem roten Farbton vorstellen. Okay. Dann gedanklich mit
hellem Licht durchströmen lassen. Na ja, Zeit bis zum Sonnenuntergang
habe ich noch. Und laufen, laufen, laufen. Unglaublich! Nach 2 Minuten
ist die Qual vorbei. Ich muss mir unbedingt ein Buch über diese
Art der Behandlung besorgen! Das Schild "60
KM" liegt seit gefühlten acht Kilometern hinter
mir, aber der nächste Verpflegungspunkt will einfach nicht
kommen. Da ich gerade nichts weiter zu tun habe, überlasse
ich mich der Ablenkung des Geistes. Und der dichtet so, wie der
Körper gerade fühlt: "Krücke-Tücke-Schmücke".
Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben. Da! Kilometer 64. Die Schmücke
ist erreicht. Am Stand sehe ich 2 Kollegen mit einem Seil in der
Mitte.
Nanu? "Blind"
und "Guide" steht auf ihren Shirt`s. Welch starkes Team!
Mein vorletzter Blick zur Uhr: 8 Stunden und 10 Minuten. Feierabend.
Mir fehlt über eine Viertelstunde. 8:59:59 kann ich momentan
nur mit einer neuen Fußprothese laufen. Folglich geht es heute
bloß um meine persönliche Bestzeit. "Chrissi"
ist sicher schon kurz vor Schmiedefeld und wird für uns beide
die Zeit unter 9 Stunden halten. Sicherheitshalber habe ich vor
dem großen Event einige Berichte über den "langen
Kanten" gesammelt. Und mich dabei über so manche Wortwahl
der Autoren auf dem letzten Abschnitt gewundert. Von "verdammten
und besch
Kilometern" war da zu lesen. Werde ich jemals
so schreiben? Natürlich nicht. Aber denken. Spätestens
jetzt. Schlagartig sehe ich mich doppelt. Das kann nicht sein! Halluziniere
ich? Da vorne geht tatsächlich mein Beistand. Er ist schon
seit 3 Kilometern gewandert, damit ich ihn endlich einhole. Ein
echter Kamerad!
Mit vereinten
Kräften erreichen wir Schmiedefeld und sind heilfroh, dass
uns die Supermarathon-Strecke nicht über die Kalte Herberge
führt. Hurra! Gleich ist es geschafft. Zieleinlauf bei Kilometer
72,7. Die unbestechliche Zeitmessung zeigt 9:16:32
und wir empfangen endlich den Typus Medaille, den wir vor einem
Jahr so bewunderten. Danke, du schöner langer Rennsteiglauf!
Trotzdem haben wir noch eine Rechnung mit dir offen. Und kommen
wieder. Im nächsten Jahr. Versprochen!
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