Bericht GutsMuths-Rennsteiglauf Supermarathon 19.05.2007

Text und alle Fotos von Mirko Leffler (email: Photo@photo-perfect.de)

"Es" beginnt am 4.Juni 2004. Einen Monat vor dem amerikanischen Unabhängigkeitstag. Wirklich ein gutes Omen? Ich will es ja so. Das tun, was ich bis jetzt verabscheue. Dieses Etwas, vor dem ich mehrfach gewarnt wurde und das mich alle Überwindung kostet. Nur: wenn ich es wirklich schaffe, dann schaffe ich auch alles andere. Ja, ich brauche eine neue Herausforderung! Und so laufe ich an diesem historischen Tag mit meinem Freund Alex die ersten freiwilligen 4 Kilometer meines Lebens, um mich hinterher wie ein chinesischer Student vor exakt 15 Jahren zu fühlen. Aber wer am Rennsteig lebt, muss auch einmal hinauf. Halbmarathon 2005 heißt das Ziel. Der erste Tiefschlag. Mein Mitstreiter bekommt Rückenschmerzen und beendet seine hoffnungsvolle Senioren-Karriere. Ich darf durchhalten.

2006 ist auch der Rennsteiglauf-Marathon absolviert. Nur jetzt ist alles anders. Eine böse Erkältung will mich ernsthaft stoppen, dabei winkt doch der 19.Mai 2007. Königsklasse! Trotzig stehe ich daher, mit den homöopathischen Mitteln meiner Lauffreundin Dagmar liebevoll aufgepäppelt, in einer langen Schlange vor dem kleinen Festzelt in Eisenach. Ich spüre zwar immer noch eine gewisse Antriebslosigkeit, aber mit meinem treuen Begleiter Christian Marx an der Seite wird es schon werden. Hoffe ich. Am Vorabend des Rennsteiglauf-Supermarathons möchten wir zu den auf uns wartenden Klößen vorgelassen werden. Aber scheinbar hört der Spaß jenseits der Marathondistanz auf. Zumindest vor dem Startschuss. Eine leicht unterkühlte Atmosphäre empfängt uns. Selbst die Trauerfeier meines hochverehrten ehemaligen Deutsch- und Musiklehrers vor Wochenfrist war stimmungsvoller - und das nicht nur, weil dieser eine Frohnatur war. Sei`s drum! Schon bald gönnen wir uns noch ein Eis auf dem sonnigen Marktplatz, bevor wir uns ganz alleine in das nahe liegende Hotel zurückziehen, denn die Nacht ist kurz. Frühstück.

Plausch mit Mirko's Vater am GrenzadlerUm 4.30 Uhr lernen wir Lisa Aguirre vom LC Duisburg kennen. Unsere Stimmung steigt. Lisa erzählt begeistert von diesem phantastischen Lauf, bei dem ihr unterwegs zwar regelmäßig irre schlecht wird, da sie kaum Essen und Trinken kann, den sie aber auf keinen Fall verpassen möchte. Was für eine Frau! Dagegen scheint Gebären die pure Erholung zu sein. Ich vertraue Ihrer Erfahrung und stecke meine Gore-Jacke wieder in den Beutel. Falls es heute doch nicht so sonnig ist, wird mir bestimmt bei den Gedanken an Lisa`s Qualen warm. Unser ausgeschlafener Suhler Weggenosse Uwe Kaiser steht schon im Startbereich. Beim nächsten Mal ist sogar für uns der "Nachtbus" erste Wahl. Der Markt ist überfüllt. Ich habe ein überschaubares Grüppchen erwartet! Andererseits: so viele Läufer müssen doch wissen, was sie tun. Oder? 06.00 Uhr. Schulter an Schulter geht es mit 1.800 KameradInnen aus der Innenstadt.

Das Burschen-schaftsdenkmal und die Wartburg sonnen sich im Licht. Ein herrlicher Morgen! Christian eilt wie sooft voraus und ich begleite Uwe bis Kilometer 8. Unfassbar, dass Uwe bei geschätzten zwanzig (20!) Trainingskilometern in diesem Jahr überhaupt dabei ist. Aber ein Bodenleger kennt keinen Schmerz; wenn nur das rechte Knie gut bandagiert ist. Ich bin wieder bei "Chrissi". Mit einem "Ihr seid Deutschland!"-Sprechchor werden wir von einem weiblichen Zuschauerpulk angefeuert. Dankbar winken wir zurück. Offensichtlich scheinen unsere Kopftücher etwas ganz Besonderes zu sein. Und eine Verpflichtung. Denn West - hier der Christian aus Hessen - und Ost - da der Mirko aus Thüringen - dürfen heute nicht getrennt werden! An der Glasbachwiese kommen wir zum ersten Mal mit dem sagenumwobenen Schleim nach geheimer Rezeptur in Berührung. Hatte ich den noch im letzten Jahr ab Neuhaus eiskalt links und rechts stehen- und liegenlassen. Heute erkenne ich ihn beinahe nicht wieder. Er grinst mich frech an und hat sich ein leichtes Rosa auf die Haut gezaubert. Dabei soll er doch ekelhaft aussehen und genau so schmecken! Wir schließen schnell Freundschaft und mein Magen leistet Abbitte. Auf zum Inselsberg.

Bis Kilometer 25 führe ich zahlreiche Gespräche mit netten, neuen Gefährten. Ich freue mich über das heutige Wetter-Glück, an welches sich selbst ein 23facher Rennsteiglauf-Finisher auf der Strecke kaum erinnern kann und staune über Bike- und Run-Wettkämpfe in Zittau. An den harten Steigungen wird in meinem "Leistungsfeld" kontinuierlich gegangen. Bloß keine Kraft vergeuden! Die hohe Kunst des Ultralaufes ist wohl die gekonnte Balance zwischen Laufen und Gehen. Besonders schön, wenn dann neben dem Geist auch der Körper mitmacht. Aber bislang droht keine Gefahr. Selbst der steile Abstieg vom Inselsberg zur Grenzwiese kommt nicht mehr überraschend. Anscheinend zahlen sich jetzt die umfangreichen Trainingsetappen über den Rennsteig aus. Seit ein paar Kilometern bin ich wieder "alleine", da sich mein westliches Gegenstück durch die östlichen Plaudereien unterfordert fühlte. Laut eigenem Zeitplan habe ich effektiv 15 Minuten verloren und muss nun das Tempo erhöhen. Oh, wie schön! Kurz vor der ersehnten Verpflegungsstelle sehe ich eine sich den Berg hinauf windende Deutschlandflagge. Ich spüre wie mein Puls an der Laktatschwelle tänzelt, weil meine Beine schneller werden. Doch die Abfrage des Tageshöchstwertes lohnt sich. Beinahe väterlich abgeklärt lege ich meine Hand auf die Schulter des verlorenen Sohnes: "Dass Du Dich nicht schämst!" Ein unschuldiges Lächeln antwortet: "Ich hätte noch gewartet!" Na gut. Gemeinsam geht es zur "Halbzeit".

Den oft gepriesenen Verpflegungsstand an der Ebertswiese habe ich mir eigentlich viel größer vorgestellt. Indes scheinen die vielen emsigen Bienchen, wie überall auf der "Königinnen- und Königsstrecke", wohl nur wenig Raum zu benötigen, um uns flink und freundlich zu umsorgen. 9 Minuten sind wettgemacht und wir bleiben auf Kurs. Kilometerschild 40. Was ist denn das? Mein rechter Fuß sendet hässliche Signale. Ich spüre jeden Schritt. Und jeden Stein. Blasenbildung, ganz klar. War`s das? Nachschauen kann jetzt tödlich sein. Nichtstun auch. Egal. Ich muss weiter! Habe ich als vielfache Begründung für diesen Lauf nicht ständig von der Vorfreude auf neue Erfahrungen gesprochen?

Mirko (links) und Christian im Ziel

Na also. Gehört alles zum Plan. Die nächste Erhebung kommt näher. Vor mir sehe ich plötzlich 2 riesige Mischbrote. Sind meine Kohlenhydratspeicher etwa schon leer?Nein, alles in Ordnung. Ich schaue noch einmal hin. Dort, wo Läufer normalerweise Waden haben, türmen sich Muskeln wie Teigwaren. Das gibt`s doch gar nicht. Ist aber wirklich so. Denn die dünnen Arme meines Vordermannes gleichen das ungewöhnliche Gesamtbild wieder aus. An den ständigen und nach einer gewissen Weile irgendwie interessanten Schmerz aus meinem rechten Schuh habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Erstaunlich, was so ein Körper alles aushält, denke ich bei mir. Oder sind das erste masochistische Anzeichen? Aber ich darf beruhigt sein, es soll bald schlimmer kommen.

Immer öfter werden wir jetzt von flinkeren Rennsteigläufern überholt. Komisch, so langsam sind wir doch gar nicht. Bestimmt will die Mehrzahl auf der Überholspur einen letzten Sprint für das Foto-Finish am nahenden Grenzadler einlegen, um mit Bestzeit auszusteigen, tröste ich mich. Kilometer 54,2. "Du bist zu spät!" ruft Martina, meine Maklerkollegin, und winkt mit einem selbst gebastelten Transparent, dass vor über einer Stunde ihren schon längst enteilten Partner Michael Recknagel motivierte. Nur gut, dass ich von Micha`s Vorsprung noch nichts ahne. Auch meine armen Eltern stehen seit einer Ewigkeit in der prallen Sonne an der Thüringer Hütte, um uns moralischen Beistand zu leisten. Dass der Junge nicht pünktlich sein kann! De facto hinkt meine Istzeit soeben 26 Minuten hinterher. Schnell wird das schönste Fotolächeln aufgesetzt und ein Abschiedsküsschen von der Mama, die unsagbar stolz auf ihren tapferen Sohn ist, mitgenommen.

Nur noch 18,5 Kilometer! Ich telefoniere mal eben mit Uwe, der sich schon bis auf eine Stunde an den Grenzadler herangekämpft hat und als wahrer Karnevalist später nach 11 Stunden und 11 Minuten im Ziel sein wird. Schmiedefeld muss unter 2 Stunden und 10 Minuten zu schaffen sein. "Fahrt schon mal los, Christian und ich werden vor 15.00 Uhr ankommen!" dirigiere ich meine kostbaren Daheimgebliebenen per Funk euphorisch. Das Gespräch ist beendet, doch von meinem Freund nichts mehr zu sehen. Stein 16. Wie oft bin ich im Training eigentlich schon hier gewesen? Ich schreie erschrocken auf. Allerdings nur innerlich, denn Wanderer kreuzen meinen schweren Weg. Was ist mit mir? Dutzende Messer haben sich über meinen Knien in die Oberschenkel gebohrt. Zumindest fühlt es sich so an. So etwas hatte ich ja noch nie! Eine ganz neue Grenzerfahrung. Ich bleibe stehen. Es wird nicht besser.

Christian und Mirko (rechts) am GrenzadlerAufgeben? Niemals! Ich denke an einen Artikel, den ich vor einer Woche über Mentaltraining gelesen habe. Den Schmerz beim Laufen lokalisieren und mit einem roten Farbton vorstellen. Okay. Dann gedanklich mit hellem Licht durchströmen lassen. Na ja, Zeit bis zum Sonnenuntergang habe ich noch. Und laufen, laufen, laufen. Unglaublich! Nach 2 Minuten ist die Qual vorbei. Ich muss mir unbedingt ein Buch über diese Art der Behandlung besorgen! Das Schild "60 KM" liegt seit gefühlten acht Kilometern hinter mir, aber der nächste Verpflegungspunkt will einfach nicht kommen. Da ich gerade nichts weiter zu tun habe, überlasse ich mich der Ablenkung des Geistes. Und der dichtet so, wie der Körper gerade fühlt: "Krücke-Tücke-Schmücke". Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben. Da! Kilometer 64. Die Schmücke ist erreicht. Am Stand sehe ich 2 Kollegen mit einem Seil in der Mitte.

Nanu? "Blind" und "Guide" steht auf ihren Shirt`s. Welch starkes Team! Mein vorletzter Blick zur Uhr: 8 Stunden und 10 Minuten. Feierabend. Mir fehlt über eine Viertelstunde. 8:59:59 kann ich momentan nur mit einer neuen Fußprothese laufen. Folglich geht es heute bloß um meine persönliche Bestzeit. "Chrissi" ist sicher schon kurz vor Schmiedefeld und wird für uns beide die Zeit unter 9 Stunden halten. Sicherheitshalber habe ich vor dem großen Event einige Berichte über den "langen Kanten" gesammelt. Und mich dabei über so manche Wortwahl der Autoren auf dem letzten Abschnitt gewundert. Von "verdammten und besch… Kilometern" war da zu lesen. Werde ich jemals so schreiben? Natürlich nicht. Aber denken. Spätestens jetzt. Schlagartig sehe ich mich doppelt. Das kann nicht sein! Halluziniere ich? Da vorne geht tatsächlich mein Beistand. Er ist schon seit 3 Kilometern gewandert, damit ich ihn endlich einhole. Ein echter Kamerad!

Mit vereinten Kräften erreichen wir Schmiedefeld und sind heilfroh, dass uns die Supermarathon-Strecke nicht über die Kalte Herberge führt. Hurra! Gleich ist es geschafft. Zieleinlauf bei Kilometer 72,7. Die unbestechliche Zeitmessung zeigt 9:16:32 und wir empfangen endlich den Typus Medaille, den wir vor einem Jahr so bewunderten. Danke, du schöner langer Rennsteiglauf! Trotzdem haben wir noch eine Rechnung mit dir offen. Und kommen wieder. Im nächsten Jahr. Versprochen!

 
Mirko noch lächelnd am Grenzadler
 

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