Richmond/Virginia,
Samstag, den 11.11.06, 8:00 Uhr , Broad-Street: Sergeant
Smith tritt vor die Läufer, salutiert, presst den Stiel der
USA-Fahne an seinen Körper und verharrt in der Habacht-Stellung.
...And
the rockets' red glare, the bombs bursting in air,
Gave proof through the night that our flag was still there.
O say, does that Star-Spangled Banner yet wave
O'er the land of the free and the home of the brave?"
-
ertönt es aus den Lautsprechern. Die US-Läufer legen
alle ihre rechte Hand aufs Herz und lauschen stolz der USA-Nationalhyme.
Ich bin auch beeindruckt und vom Pathos dieses Augenblicks dermaßen
ergriffen, dass ich jetzt auch am liebsten meine Hand aufs Herz
legen würde. Aber welche war das gleich - die linke auf die
rechte Seite oder umgehrt? Ich überlege kurz und schaue mich
um. Na klar, die rechte Hand muss doch zum Herz auf der linken
Seite gehen. Aber irgendwie komme ich mir bei dieser so typisch
amerikanischen Geste doch blöd vor und lasse es sein.
Die
Hymne ist zu Ende. Alle applaudieren laut und machen sich wieder
warm, bevor es in wenigen Augenblicken auf die 42,2 Kilometer
geht. "Warm-machen" ist dabei der falsche Ausdruck,
denn die Temperatur mag jetzt schon so bei 15 Grad liegen und
es wird noch viel, viel wärmer an diesem schönen, sonnigen
Spätherbsttag. Ich stehe direkt hinter der kleinen Gruppe
der Spitzenläufer, sozusagen in der ersten Reihe. Das war
gar nicht so geplant. Ich habe vor der Startlinie einfach ein
Lockerungsläufchen gemacht, bin dann zurückgelaufen
und stand plötzlich ganz vorne. Doch mein bescheidenes Ziel
heute ist es doch, irgendwie unter 4 Stunden zu bleiben. Ich könnte
aber, wenn es sich schon so ergeben hat, eine kleine Show abziehen
und die ersten paar Hundert Meter mit der Spitze mitlaufen. Da
kann mich Eyck, der sich etwa 200 Meter vor dem Start postiert
hat, besser fotografieren. Und dann komme ich vielleicht ins Fernsehen
oder auf die Titelseiten der Lokalzeitungen?
Der Gedanke ist so albern, dass ich lachen muss. In diesem Moment
fällt der Startschuss. Ich renne los als wollte ich das Rennen
gewinnen und überhole
einige der Stars. 100 m, 200 m, 400 m - ich bin immer noch mit
an der Spitze. Wo ist der Eyck? Er soll schnell ein paar Fotos
schiessen, lange kann ich dieses Tempo nicht mithalten. Gott sei
Dank sehe ich ihn endlich, laufe an ihm vorbei und werde schlagartig
langsamer. Immer mehr Läufer ziehen an mir vorbei. Schade,
denke ich, wenn ich besser in Form wäre, könnte ich
heute einen Super-Platz belegen und sogar meine AK gewinnen. Denn
den Meisten geht es hier offenbar gar nicht so sehr um die Zeit
sondern vielmehr um den Spass. Ins Ziel kommen ist die Devise,
in welcher Zeit ist doch egal. Die ersten Meilen sind absolviert.
"Good job", "Great job" oder gar "Excellent
job" - höre ich immer wieder. Wir sind jetzt in der
Monument Avenue. Hier wohnt Holger, mein Kollege aus Dresden,
der z.Z. in dem amerikanischen Teil unserer Firma in Richmond
arbeitet. Er wollte eventuell an die Strecke kommen. Ich schaue
nach ihm aber wahrscheinlich war es ihm doch zu früh zum
Sonnabendmorgen, denn ich kann ihn nirgends sehen. Die Gegend
mit den typisch amerikanischen Villen und viel Grünem, das
jetzt in der strahlenden Herbstsonne gelb, rot, orange und braun
leuchtet, ist sehr hübsch. Wir biegen in die Westmorland
Ave. ein. Hier gefällt es mir noch besser. Hübsche Häuschen,
schöne Gärten, breite Spielstrassen und wieder die vielen,
bunten Herbstfarben. Schade, dass ich keine Kamera mithabe, um
diese Bilder festzuhalten. Das Zentrum von Richmond, die sog.
Down Town ist eher unattraktiv und bietet nur wenige Sehenswürdigkeiten
(>> Virginia
is for Lovers). Hier würde es sich aber schon eher leben
lassen. Ich laufe immer noch locker und bin mir zu dieser Zeit
absolut sicher, dass ich die 4 Stunden problemlos schaffe. Schliesslich
hat es bis jetzt immer, auch aus der "Kalten" geklappt.
Seit meinem Rennradunfall im August komme ich nur sehr schwer
in Tritt und habe wenig trainiert. Wäre auch nicht auf die
Idee gekommen, jetzt einen Marathon zu laufen. Aber wenn ich hier
dienstlich bin
und es wird gerade während dieser Zeit ein Marathon ausgetragen,
dann muss ich ihn doch "mitnehmen". Koste es, was es
wolle. Damit meine ich mehr meine Gesundheit, auch wenn die 85
Dollar Startgebühr nicht gerade wenig waren. Wir sind jetzt
bei Meile 7. An einer Kurve stehen wieder viele Zuschauer und
jubeln uns zu. "Great job" - höre ich wieder, "Keep
on" oder "Looking good". An mir kommt ein japanisch
aussehender Läufer vorbei. Die Fans jubeln und zeigen auf
seine Füsse. Der Bursche läuft barfuss und scheint sich
dabei sogar wohl zu fühlen. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich
habe bei meinem 61. Marathon einen Anfängerfehler gemacht
(!) und ganz neue, erst gestern gekaufte Socken angezogen. Inzwischen
habe ich Blasen an beiden Füssen, die mir immer mehr zu schaffen
machen. Was tun? Ich halte an, ziehe kurzerhand die Socken aus
und schmeisse sie weg. Jetzt geht es besser. Mal sehen, ob ich
es bis ins Ziel durchhalte. Wir laufen jetzt am James
River (Foto unten) entlang. Der Fluss ist viel breiter als
die Elbe bei Dresden und auch viel wilder mit den zahlreichen
kleinen Inseln, Felsen, Bäumen und dichten Sträuchern
an beiden Ufern. Wir durchlaufen jetzt so eine Art Naturschutzgebiet.
Ich sehe hier u.a. viele Vögel. Die meisten sind mir unbekannt,
denn sie haben mit ihren Artgenossen in Europa wenig zu tun. Nur
den roten Cardinal
- das Wahrzeichen von Virginia - kenne ich inzwischen ganz gut.
In der vergangenen Woche konnte ich ihn oft sehen und auch mehrere
gute Fotos von ihm machen (s. oben).