"It does not matter how slowly you go so long as you do not stop (Confucius)"

33. San Francisco Marathon
27.07.2009

Ein Bericht von Mirko Leffler

Aber die Diva gibt sich geheimnisvoll!

Süßsauer begrüßen die Hafenlichter den Morgen. So wie die Teilnehmer, die sich kurz vor halb Sieben auf dem Embarcadero einreihen. Die Laufelite ist seit einer knappen Stunde vor uns auf die Strecke gegangen. Trotzdem starten die Mitstreiter entweder in Trance oder lassen sich einfach nicht hetzen. Sind wir hier überhaupt richtig? Der Großteil walkt! Moment, heute ist der 26. Juli 2009. Dann ist das wirklich der 33. San Francisco Marathon!

Meinen Kameraden Christian Marx und mich packt der Sightbhseeing-Virus und wir lassen uns langsam an Pier 39 vorübertreiben, wo urige Seelöwen wahrscheinlich noch faul mit dem Tag um die Wette dämmern. Abrupt gleitet ein gespenstisches Leuchten über das Wasser. Dort drüben muss der Leuchtturm von Alcatraz stehen! Ist das seine stumme Mahnung, stets auf dem rechten Weg zu bleiben? Erschrocken verriegele ich meine Jacke, doch jubelnde Zuschauer bringen mich wieder auf Kurs. Und jetzt entdecken wir den stählernen Superstar. Aber die Diva gibt sich geheimnisvoll! Hinter einem riesigen Duschvorhang aus grauem Dunst gönnt sie uns nur einen fernen Blick auf ihre roten Waden. Sie will Schritt für Schritt erobert werden!

Schon teilen wir uns die Golden Gate Bridge mit Fahrzeugen und der Wind chillt sein Lied bei spürbaren 10°C. Nebel trübt die Aussicht und greift durch die Stäbe. Dennoch hat er keine Macht über uns - die Müdigkeit ist längst verflogen. Wie viele verlorene Seelen haben sich wohl von hier in eine andere Welt fallen lassen? Als moderne Schatzsucher erobern wir das andere Ufer. Nicht wie im legendären Goldrausch um 1848, sondern auf der simplen Suche nach Essbarem. Hilfe, am "Vista Point" warten die Abgesandten einer Motorradgang! Die knallharten Typen verwandeln sich schlagartig in Kuschelrocker und reichen uns tatsächlich Gels. Was für putzige Streckenbetreuer!

Mirko LefflerIch hoffe weiter auf Obst und verweigere erfolgreich die ungewohnte Nahrung. Erneut berühren wir die prominente Schönheit. Attraktion. Junge, alte, kleine, große, drahtige und überaus beleibte Wettkämpfer begegnen uns rasant oder beinahe in Zeitlupe. Eine umringte Zugläuferin verkündet die geplante Ankunftszeit ihrer Reisegruppe: 5 Stunden und 45 Minuten. In unserem ehrgeizigen Deutschland wäre das unvorstellbar! Der weiße Schleier lichtet sich und ich verstehe: Die Mehrheit will sich unabhängig von Bestzeiten oder äußeren Bedingungen verwirklichen. Gelebte Träume brauchen keine Sonne! Der Asphalt krümmt sich und schlängelt einen Hügel hinauf. Ich denke bei dem wechselnden Auf und Ab an die berühmte Krimiserie und bin als Einsatzwagen plötzlich mittendrin! Selbst die Cops am Wegesrand scheinen "Die Straßen von San Francisco" genau studiert zu haben. Sie spielen gekonnt mit und verziehen keine Miene hinter ihren getönten Sonnenbrillen.

Im Golden Gate Park ist Christian auf einmal wie vom Erdbeben verschluckt. Nach 2:33:22 bummele ich deshalb alleine am 13,1 Meilen-Banner vorüber. Halbzeit! Pfiffige Plakate an den Laternen trösten die sich darunter entkrampfenden Gefährten, eine Band versendet optimistische Botschaften, "JESUS CHRIST LOVES YOU" beteuert ein aufmerksamer Passant. Larry hingegen schenkt mir Altersvorfreude. Der 64jährige Amerikaner genießt lächelnd seinen 560. schmerzfreien Marathon, obwohl er seit dem achten Lebensjahr "auf den Beinen" ist. Was für eine Motivation! Die erwachte Sonne freut sich mit mir über die Farbenpracht vor dem viktorianischen Gewächshaus.

Südländische Prinzessinnen feiern laufend Geburtstag und ein dunkelhäutiger Hüne schwenkt seine Fahne für die Freiheit. Neben mir sinkt ein von seinem Rüstzeug gepeinigter Feldherr auf die Knie. In dieser Stadt ist offenbar jeder willkommen - egal wie oder wer er gerne sein möchte! Unerwartet ragen kolossal bestrapste Plastebeine aus einem Fenster; Pärchen sitzen wie im LSD-Rausch teilnahmslos auf einer Wiese. Ich habe Haight-Ashbury betreten! Schlug hier nicht das Herz der Flower-Power-Ära? Häuser im Hippie-Look weisen noch immer den alternativen Pfad, den einst auch Janis Joplin und Jimi Hendrix gingen. "HAPPY BUT HUNGRY" lese ich auf einem Pappkarton. Sofort rebelliert mein Magen. Genügt ihm denn die Aussicht auf freie Liebe nicht? Hätte ich nur den netten Rockern vertraut!

Nun kann mich nur noch das Publikum retten. Dankbar pflücke ich zwei dicke Erdbeeren an einer privaten Verpflegungsstelle, gefolgt von herzlichen "Good Job"-Rufen. Dabei ist "die Arbeit" für mich selbst nach über 300 Anstiegshöhenmetern reines Vergnügen! Auch Fredrik aus Schweden genießt die erste Begegnung mit "The City" bei seinem glückbringenden 13. Marathon. Gittarenklänge versüßen die finale Meile, während wir das galaktische Baseball-Stadion der "Giants" und die Bay Bridge bestaunen. Um 290 digitale Erinnerungen und ein frisch inhaliertes Lebensgefühl reicher, ankere ich nach 5:19:28 gemeinsam mit meinem skandinavischen Begleiter am Hafen. Die kleine USA-Visite ist damit fast beendet und ich sortiere ein letztes Mal meine Erlebnisse:

Wirkte New York noch wie eine verbrauchte Lady, blendete mich das heiße Kleid von Las Vegas zu lange, während L. A. leider nur ein leeres Versprechen war. Doch in San Francisco bin ich endlich angekommen.

( Dieser Bericht wurde vorab in "Running - Das Laufmagazin" 9/2009 veröffentlicht)

>> (fast) Alles über Mirko Leffler

Frederik (links) und Mirko
 

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