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30.
Hasco-LEK Wroclaw-Marathon Bei Kilometer
30 kann ich nicht mehr. "Lauf weiter" - sage ich zu
Peter - "Ich muss mich kurz ausruhen und werde dann mein
eigenes Tempo laufen. Mach Dir keine Sorgen. Ich
schaffe das schon. Wie sie..." - sage ich und
deute auf eine polnische Läuferin, die diesen Spruch auf
Polnisch auf ihrem T-Shirt trägt ("Damy
Rade!" - Foto).
Ich dehne meine schmerzenden Ober-schenkel, mache ein paar Kniebeuge
und setze mich langsam wieder in Bewegung. Peter ist mittlerweile
200 Meter vor mir und winkt mir von Weitem. Nun bin ich ganz alleine.
Alleine als Dresdner Troll, denn ansonsten hat man bei diesem
mittlerweile grossen Stadt-Marathon immer viele Mitstreiter um
sich.
Bei
meiner ersten Teilnahme 1997 waren es gerade mal 750 Läufer
am Start. In den Folgejahren bis 2002, wo ich jedes Jahr (mehrmals
auch mit "Obertroll" Peter) dabei war - stieg die Teilnehmerzahl
nur unwesentlich bis auf ca. 1000. Der starke Teilnehmer-Zuwachs
kam - dem internatio-nalen Trend folgend - erst in den letzten
paar Jahren. Allerdings war man in den 90er Jahren mit einer Zeit
von über 3h30 ziemlich am Ende des Feldes. Heute gehört
man damit zur erweiterten Spitze. Ich
denke an das Jahr 2001 als Ralf -
der Mitbegründer der Dresdner Trolle - auch nach Wroclaw
mitkam und wir damals als "Obertrolle-Team" starteten.
Damals fand der Wroclaw Marathon noch im April statt.
Piast - eine grosse Bierbrauerei - war der
Sponsor. Man lief zwei Mal die Halmarathonschleife.
Start/Ziel
war auf dem Altmarkt, der eine beeindruckende Kulisse bot. Es
war sehr heiss an diesem Tag, die Temperatur lag bei weit über
30 Grad.
Wir
waren alle 3 gut in Form, liefen auf Zeit und lieferten uns einen
Wettkampf. Ich lief die ganze Zeit vor Ralf, spürte aber
auf der zweiten Runde regelrecht seinen Atem im Rücken. Als
ich mich bei Kilometer 36 umsehe, ist er plötzlich ein paar
Meter hinter mir. Er lacht, dann fängt er an, zu torkeln.
Ich denke zunächst, dass er Spass macht, bis ich merke, dass
ihn die Kräfte verlasen und er zu Boden sinkt. Im letzten
Augenblick gelingt es mir, ihn aufzufangen und auf einen Rasen
neben der Strasse zu legen. "Wir brauchen einen Krankenwagen
- schreie ich laut. Ralf liegt bewusstlos auf dem Boden, ein paar
polnische Läufer helfen mir, ihn zu "beleben".
Ein paar Minuten später höre ich die Sirene, kurz darauf
wird unser völlig dehydrierter Obertroll von einem Arzt behandelt
und anschliessend ins Krankenhaus gebracht. Ich laufe ins Ziel
und treffe dort wenig später Peter. Zusammen mit Ralf's Jungs,
die damals noch Kinder waren, besuchen wir unseren dritten Obertroll
in einem Krankenhaus. Der Wroclaw-Aufenthalt muss um einen Tag
verlängert werden.
Heute am 16.9.2012 dürfte uns eine ähnliche Situation
nicht passieren, denn die Temperaturen sind mit ca. 20 Grad ideal
und auch sonst scheint es keinen Grund zu geben, den Wroclaw-Aufenthalt
unfreiwillig zu verlängern.
Die meisten Sorgen hatten wir uns um die Autos gemacht. Die Erleichterung
war groß, als unsere beiden PKW heute früh vor dem
Hotel immer noch unangetastet da standen.
Im
glücklichen Jahr 2010 kam ich zusammen mit Roman
(Foto links) nach Wroclaw.
Er war in starker Form und wollte Bestzeit laufen. Für mich
ging es darum, mit dem verletzten Knie unter 4 Stunden zu bleiben.
Der Marathon hatte sich in den letzten Jahren stark verändert.
Start/Ziel war jetzt am Olympia-Stadion, die Teilnehmer-zahl lag
bei beachtlichen 2500. Ich denke jetzt an diese glückliche
Zeit und an meinen Sohn, der nicht mehr da ist. Mein Leben hat
sich seit dem 14.6.12 sehr stark verändert. Fürs Laufen
hatte ich wenig Zeit, die Lust darauf kommt nur langsam wieder
zurück. Die Kondition reicht im Moment vielleicht für
10 Kilometer aber nicht für einen Marathon. Ich bin aber
heute trotzdem dabei, um zusammen mit den anderen "Trollen"
und "Gast-Trollen" Roman zu gedenken.
Die
Idee, einen Gedenklauf zu
organisieren, kam noch im Juni auf, kurz nach Roman's Tod. Christian
organisierte die T-Shirts (s. >>
sein Bericht). Mit der Anmeldung wurde es wegen dem Teilnehmerlimit
noch etwas eng aber schliesslich können wir heute alle starten.
Dabei sind: Nicole, Christian, Frank-Peter,
Gerald, Henrik, Matthias, Mirko, Peter, Siggi und ich.
Samstag
Mittag treffen wir uns vor unserem Hotel nahe Stadtzentrum, anschliessend
fahren wir zur Marathon-anmeldung. 16 Uhr beginnt die Pasta-Party.
Das Wetter ist schön, wir sitzen draussen, essen Nudeln,
trinken Bier und hören einer Mädchen-Rockband zu (Fotos).
>> Errinerung
an Roman 1 (You Tube)
>> Erinnerung
an Roman 2 (Foto-Bericht)
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Siggi,
Christian, Frank-Peter, Conny, Nicole, Christina, Bärbel, Peter,
Henrik, Matthias, Gerald, Mirko |
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Gegen 17:00
Uhr taucht Nicole auf. Sie ist mit dem Zug von Berlin nach Wroclaw
gefahren und hat das letzte Stück - liebevoll betreut von
einer Gruppe polnischer Jugendlichen - mit der Strassenbahn (Linie
9) bewältigt. Den Abend lassen wir auf dem schönen,
aufwendig restaurierten Wroclawer Altmarkt ausklingen.
Der
Marathon startet 9:00 Uhr. Wir kommen schon halb acht
auf dem großen, extra für die Marathonteilnehmer in
der Nähe des Starts eingerichteten Parkplatz an. Damit sind
das Auto und das Gepäck sicher. Wer dem Frieden trotzdem
nicht traut, kann Wertsachen in seinen Kleiderbeutel legen und
zur Aufbewahrung abgeben. Oder auf vermeintliche "Nummer
sicher" gehen und besonders wertvolle Gegenstände mit
auf die Strecke nehmen - wie zum Beispiel den Autoschlüssel.
Es ist 8:30. Wir haben noch viel Zeit und machen Gruppenfotos.
Die meisten von uns entscheiden sich dafür, den Gedenklauf
locker und ohne jeglichen Zeitdruck zu bestreiten. 9:00 Uhr setzen
wir uns aus den letzten Reihen gemütlich in Bewegung. Erst
nach 5 Minuten überqueren wir die Startlinie. Danach geht
es noch eine ganze Weile im Stop&Go-Rhythmus weiter, bis sich
die Läufermasse ausreichend auseinander gezogen hat.
7
Trolle bleiben weiterhin zusammen. Franky und Henrik laufen etwas
schneller, Christian war schon vorher weg. Ich
unterhalte mich abwechselnd mit Mirko, Gerald, Nicole, Siggi und
Matthias, zum Schluss mit Obertroll Peter. Nach einer Pinkelpause
bleiben wir etwas zurück. Der Rest läuft lange in Reichweite.
Als Orientierung dient uns die ganze Zeit der
über 2 Meter grosse Wladimir
Klitschko alias Matthias,
der mit seinem grünen Kopftuch wie ein Leuchtturm aus der
Läufermasse hervorragt (Foto
ganz oben). Nach 15 Kilometern (>>
Strecke)
laufen wir an dem Stadion vorbei, in dem bei der letzten Fussball-EM
ein paar Spiele ausgetragen wurden (Foto).
Ich bin von der imposanten Arena beeindruckt. Auch sonst hat die
EM viele positive Spuren in Wroclaw hinterlassen - es wurde viel
renoviert bzw. neu gebaut.
Wir treffen
Siggi, der wegen Schmerzen
in der Hüfte nicht mehr laufen kann und nun geht.
"Ich
werde wahrscheinlich, wie geplant, aussteigen und mit einem Taxi
zum Ziel fahren" - meint er. "Danke, dass Du mitgekommen
bist" - sage ich zu ihm. Wir kennen uns seit über 20
Jahren. Als wir uns kennen lernten, war er so alt wie ich jetzt.
Nur viel fiter. Wir haben viele Marathons und Rennrad-trainings
zusammen bestritten. "Bis später" - sagen wir zu
Siggi (Foto) und laufen mit
Peter weiter. Vorher versorgt der Obertroll unseren 74-jährigen
Veteran mit einigen Wundertabletten aus seiner "mobilen Apotheke".
Ich ahne zu diesem Zeitpunkt nicht, dass auch ich etwas später
davon Gebrauch machen werde. Im Moment sind wir beide noch frisch,
laufen munter weiter und machen immer wieder Fotos.
Auch
von einer jungen Polizistin, die mich danach so streng anschaut,
als wollte sie gleich ihre Dienstwaffe ziehen (Foto).
Nach
dem Halbmarathon bekomme ich
trotz oder vielleicht gerade wegen des "Schnecken-tempos"
zunehmend Oberschenkel-Schmerzen. Bei Kilometer
25 lasse ich mich massieren. Peter wartet auf mich.
Danach laufen wir zusammen weiter, machen weitere Fotos. An den
Verpflegungsstellen besticht immer wieder die Begeisterung, mit
der die Helfer: Schlüler bzw. Soldaten der polnischen Armee
ihre Aufgabe erfüllen. An einer Ecke bei Kilometer
28 treffen wir Bärbel. Nach der 30-Km-Marke "entlasse"
ich Peter, der noch sehr locker wirkt, und beschliesse, mich auf
den letzten Kilometern alleine zu quälen.
"Ich
quäle mich gerne für Dich Roman"- kommt
es mir in den Sinn. Jeder Schritt tut weh, ich jogge aber kontinuierlich
weiter. Gehen kommt für mich nicht in Frage. Da
wir mit Peter als die letzten Trolle liefen und auf Niemanden
von uns bis jetzt aufgelaufen sind, denke ich, dass ich immer
noch der langsamste Troll bin. Mit
Bewunderung denke ich vor allem an unsere
"Troll-Nicole", die ja neulich wochenlang
in der Karibik unterwegs war und auch nicht trainieren konnte.
Auch der lange Matthias (Klitschko)
bringt wohl heute bei seinem Marathon-Debüt eine starke Leistung.
Erst später werde ich erfahren, dass ich die Beiden irgendwo
überholt habe. Sie werden zusammen mit Siggi, der seine Schmerzen
überwunden und doch noch durchgehalten hat, nur wenige Minuten
später nach mir ins Ziel kommen.
36
Kilometer sind absolviert,
jetzt kommen die interessantesten Abschnitte der Strecke. Wir
kommen auf den Altmarkt
(Foto links)
und werden anschliessend über die Dom-Insel
(Foto) Richtung Olympia-Stadion
laufen.
Ab
da erlebe ich so etwas wie eine "Neugeburt". Die Schmerzen
sind fast weg. Ich fühle mich besser, laufe etwas schneller
und überhole noch viele Läufer. Nach 4h46 komme ich
endlich ins Ziel (Foto). Ich
würde noch gerne ein wenig mit den anderen zusammen sitzen
und das schöne Wetter und die Marathonstimmung geniessen
aber dafür ist jetzt keine Zeit. Wir haben ein "technisches"
Problem und müssen es jetzt lösen, damit alle morgen
früh wieder zur Arbeit gehen können. Das klappt dann
auch halbwegs. Gegen Mitternacht sind alle wieder in Dresden.
Nur Mirko muß 2 Tage länger in Wroclaw bleiben. Er
nimmt das gelassen. Am Dienstag darf auch er nach Hause zurück
fahren. An
diesen denkwürdigen Marathon werden wir uns noch lange erinnern.
Meine Medaille widme ich Roman. DANKE an alle, die nach Wroclaw
mitgekommen sind.
>>
Ergebnisse
>>
Bericht
von Christian Wroclaw Marathon 2012
>> Bericht
Wroclaw Marathon 2010
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