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Schmunzelnd
lässt mich der Ordner zum Start-bereich vor: "Du hast
alles dabei." Skeptisch taxiere ich die Umgebung. Wieso bin
Ich (Foto) der Einzige, dessen
Pflicht-ausrüstung nicht kontrolliert wird? Ups: ich
habe den dicksten Rucksack! Trotzdem ist es irgendwie
beruhigend, an alles gedacht zu haben. Selbst wenn es dafür
am 25. Juni 2011 keinen Sonderpreis gibt. Mit 5.474
positiven Höhenmetern
wird sich der 1. Zugspitz Ultratrail gleich in die Hitparade der
härtesten europäischen Hundertkilometerläufe spielen.
Seit meiner Anmeldung wechseln sich Respekt, Zweifel und Hoffnung
ab. Aber ich muss einfach dabei sein! Das ist die ultimative Prüfung
für Körper und Geist. Morgen früh weiß ich,
wo ich stehe. Falls ich noch stehe. Sieben Uhr 15. Es geht los!
(Foto) Sofort reißt
mich mein Übergepäck an das Ende des Feldes.
Mir ist
als würde ich einen randvollen Handwagen hinterher ziehen.
Auf was hätte ich in dem Neunkilorucksack nur verzichten
können? Denn immerhin ist es mit dem Wettersteingebirge und
seiner Königin, der Zugspitze, wie bei meiner Frau: mit gefährlichen
Umschwüngen muss jederzeit gerechnet werden.
Plötzlich
bin ich froh, bei Verpflegungspunkt 5 separate Wechselwäsche
deponiert zu haben. Vor mir verlassen über 400 Wettkämpfer
Grainau und erklimmen den Wald Richtung Höllentalklamm. Es
ist kühl, der Himmel so blass wie die bekleideten Waden und
mein Tempo unterirdisch langsam. Augenblicklich steht der "Besenmann"
wie der Teufel neben mir. Ein orangefarbener Stab mit schwarzer
"100" schwebt über seinem Kopf. Doch Mario Oehme
verkündet himmlische Linderung: "Wenn du ankommen willst,
bringe ich dich ins Ziel!" Entspannt denke ich nun an meinen
Kameraden Renè Gnauert, der mich ursprünglich begleiten
wollte und gewiss eine halbe Stunde Vorsprung hat. Der Weg steigt
an und der Eibsee liegt mit seinen Inseln wie ein trüber
Schatz darunter. Kurzatmig begegne ich der stets gutgelaunten
Susanne Alexi. Wir marschieren aufwärts,
scherzen, fotografieren um die Wette und sind unerwartet in Österreich
(Foto).
Zusammen
läuft es einfach besser! Durch den Wald lassen wir es hinab
zur ersten Hürde rollen. Vorsichtig beäuge ich bei VP
2 die Uhr. Obwohl kein Läufer mehr zu sehen ist, haben wir
eine Stunde Vorsprung auf das Limit. Ein gutes Zeichen? Unsere
Strecke windet sich über Gräser und führt wellig
auf einen schmalen Pfad mit Verbots-Hinweis. Witzig! Wen können
wir noch überholen? Unerwartet landen wir an der Ehrwalder
Almbahn-Station. Moment, die Route kenne ich! Beim letzten Zugspitz-Extremberglauf
war ich froh, mich von Ehrwald aus mit letzter Kraft auf den Gipfel
zu schleppen. Beinahe wäre ich ein Opfer völlig ungewohnter
Kopfschmerzen geworden. Lag es an der Hitze, mangelnder Wasserzufuhr
oder der Höhenlage? Keine Ahnung! Flink ertränke ich
die schmerzhafte Erinnerung mit der Flasche. Kühe (Foto
ganz oben) machen schöne Augen, weit entfernt sprudelt ein
Wasserfall hinter einer Sommerwiese über die Felswand - und
ein Damenduo mit Startnummern und roten Oberteilen überholt
Susanne und mich.
Selbst "Besenmann"
Mario ist wieder da. Mit einem Helfer sammelt er als Nachhut so
nebenbei die Streckenschilder ein, während wir über
die Hochfeldernalm über kleine und große Steine zum
Feldenjöchl traben. "70 KM TO GO" lesen wir auf
dem Fähnchen, in dessen Nähe sich das Damen-Team umkleidet.
Doch Susanne, die unlängst bei der TorTour de Ruhr 230 Kilometer
nonstop bewältigte, lässt mich verstummen. "Mir
fehlt das Bergtraining, ich höre auf." sagt sie lächelnd.
Ungläubig verabschiede ich mich. Wir hätten es als inoffizielles
"Mixed Team" bestimmt geschafft!
Ich
habe es nicht eilig, sondern will nur fristgerecht ankommen. Gleichzeitig
wäre das die qualifizierte, mir noch fehlende Eintrittskarte
für den Ultra Trail du Mont Blanc, einen der weltweit anspruchsvollsten
Bergläufe. Der "weiße Berg" liegt jedoch
in weiter Ferne, denn der hochalpine Wind will mich von der Strecke
pusten. Vor der monströsen, zerklüfteten, nebelbehangenen
Gipfelwelt suche ich Schutz im Tal, springe über Geröll
und erquicke mich an plätschernden Bächen. Unverhofft
schleicht ein Teilnehmer vor mir. "PUMA" steht als Spitzname
auf seiner Startnummer, aber die grauhaarige Raubkatze wird von
Knieschmerzen geplagt. Vorbei an stark müffelnden Rindern
passieren wir bei Kilometer 43 kurz nacheinander die Hämmermoosalm.An
einem Holzschuppen lehnt ein sprachloser Athlet, der offensichtlich
auf seinen Rücktransport wartet.
Ich bleibe
hinter meinem neuen Gefährten und schnalle zum zweiten Mal
die Teleskopstöcke ab, die ich früher so belacht habe.
Allein die letzten sechs Monate haben mich geläutert. Jeder
Trainings- und Wettkampfmeter diente dem heutigen Tag! Rucksack
und Stöcke wurden meine Freunde, gezielte Ober-körperübungen
Routine. Aber reichen knapp 1.300 Kilometer und 20.000 Anstiegshöhenmeter
als Vorbereitung aus? Puma stolpert über hinterlistige Baumwurzeln,
die sich aus dem Boden gefressen haben. Zusammen bezwingen wir
den Wurzigen Steig, klettern wie Ziegen zum Scharnitzeljoch und
erblicken einen Felsblock, auf dem sich schwarz-graue Tafeln und
Kreuze mahnend aneinander reihen. Auf der Bergkuppe empfangen
uns klatschende Rettungssanitäter, die sich freuen, dass
wir allesamt nicht füreinander bestimmt sind. Mario ist uns
mit seiner Fähnchen-sammlung drängelnd auf den Fersen:
"Beeilt euch, es wird bald dunkel!" Wir sausen abwärts
und treffen in einem Forst auf drei Leidensbrüder. Unvermittelt
ertönt Mario`s Stimme wie ein Pfiff. "Mirko, lauf` los!"
Ich begreife sofort, überhole und sprinte um`s Überleben.
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Das Zeitfenster schließt sich! Nach 13 Stunden und über
39 Minuten erreiche ich VP 5 kurz vor dem luxuriösen Hubertushof
in Leutasch. Knapp fünf Minuten vor dem "Cut Off"
darf ich den Kilometerpunkt 56,9 als Letzter im Limit betreten;
alle Wegbegleiter hinter mir steigen leider aus. Ich werfe drei
Kilo Übergewicht ab, wechsele Shirt, Fleece, Jacke, ignoriere
die freien Liegestühle im heimeligen Wärmezelt und setzte
die Stirnlampe auf. Eigentlich hat Mario jetzt Feierabend, aber
er will sein Versprechen einlösen, das er mir am Morgen gab:
"Dann mache ich eben noch einen Trainingslauf über 45
Kilometer." Was für ein unglaublicher Typ! Es ist zwar
dunkel, aber im Kopf noch keine Nacht.
Dutzendfach
habe ich mir im Vorfeld das Streckenprofil und die Zeitlimits
verinnerlicht, mich auf Regen, Schnee, Schwächephasen, Schmerzen
und - vorsichtshalber - unzureichende Kost eingestellt. Und mir
das glorreiche Finish ausgemalt. Trotzdem ist es der erste Trailwettkampf,
den ich in der Dunkelheit erlebe. Was passiert, falls ich müde
werde? Doch der Schlaf hat keine Chance. Mario besiegt ihn in
Sekunden: "Atme ruhiger
beeil dich
los
vorwärts
schneller!" Irgendwann werden seine Kommandos
zu einer Melodie, die mich schwitzend auf der nun relativ flachen
Strecke vorantreibt. Schon folgt die Leutascher Geisterklamm,
das dämonische Gebiet, in welchem Kobolde und Zwerge mit
dem Klammgeist hausen sollen. Von der Schönheit der Natur
bekomme ich nichts mit. Bis zum VP 6 peitscht mich Mario beinahe
um den Mittenwalder Ferchensee.
69,9
Kilometer sind geschafft. Nanu, ist das Bernd Kalinowski?
Überrascht entdecke ich den körperlich unversehrten
Lauffreund. "Auf geht`s!" rufe ich. Dennoch hält
sich Bernd an einem Bier fest und will die Sache aussitzen. Mario
und ich ziehen weiter. Verwirrt erkenne ich: hier entscheidet
vorrangig der Kopf und keine Marathonbestzeit. Unterwegs wirst
du vielleicht deinen größten Ängsten begegnen.
Aber falls du an dich glaubst, kämpfst und durchhältst,
wächst dein Wille mit jedem erreichten Ziel. Und ich will
dieses Rennen unbedingt in Grainau beenden. Wie Nadelspitzen stechen
die Abschiedsworte meiner liebenden Ehefrau ins Hirn: "Du
kommst sowieso nicht an!" Kann es eine bessere Motivation
geben? Mario`s Kollege Andy fährt hinter uns auf dem Rad.
Momentan ist es seine Aufgabe, die tadellos wegweisenden Streckenmarkierungen
zu demontieren. Nebenher haben sich die beiden als "Guter
Helfer - böser Helfer" maskiert. Während Mario
regelmäßig lautstark meinen Namen zelebriert, lobt
mich Andy für den vorbildlichen Stockeinsatz. Ich komme in
Hochform und werde zum Powerwalker.
Auf
einmal blinkt uns das rote Rücklicht eines Läuferrucksacks
entgegen: "Hallo Heike, wie geht`s?". Auch Heike Pawzik,
die erfahrene Transeuropaläuferin, arbeitet sich bergauf.
Prompt nähern wir uns René, meinem "entlaufenen"
Kollegen. Damit hätte ich nicht mehr gerechnet! Ab sofort
ist Mario der Guide und lotst warnend über rutschige Stufen
und gemeine Wurzeln, die uns im Takt talwärts stolpern lassen.
Nach 81,5 Kilometern versammelt sich an VP 7 eine ganze Läuferschar
um die unermüdlichen Helfer am Gabentisch. Frisch aufgetankt
greifen wir die schwerste Etappe an. 1.000 Höhenmeter auf
sieben Kilometern sollen uns bis zur nächsten Verpflegungsstelle
peinigen. Wir gehen zügig vorwärts - bis der Abschnitt
fast zum Dschungelpfad wird. Wie mit einer Kerze scheint Mario
im Licht seiner Lampe vorauszueilen. Trotzdem ich kann seinen
Schritten nicht mehr folgen und verliere ihn an die Finsternis.
Umnachtet sinniere ich über Berichte von Engelserscheinungen.
Ist Mario bloß ein Geschöpf meiner Phantasie oder hat
er seine Mission bereits erfüllt? Ohne Vorwarnung öffnet
sich der Boden. Werden nun meine geheimsten Albträume wahr?
Ich falle wie ein Stein, kralle nur noch die Finger ins Gras und
baumele erschrocken an einem Abhang. Rettende Arme eines Weggenossen
erlösen mich. Danke! Ein kurzer Fehltritt und alles kann
vorbei sein. Dieses Gesetz gilt scheinbar für politische
als auch läuferische Karrieren. Innerlich frisch verprügelt
tappe ich durch die Düsternis, stochere mit den Stöcken
wie mit der Gabel auf dem Salatteller.
Die
bielerprobte Stirnlampe entpuppt sich als seichte Funzel. Ist
das der richtige Abzweig? Beruhigt sich der Magen? Oder habe ich
abgefrühstückt? Es regnet! Bevor mich die Verzweiflung
packt, belüge ich mich so gut ich kann und verdränge
den virulenten Zustand: "Ja, die warme Dusche tut gut; gleich
bin ich oben!" Und das Wunder geschieht: es wird hell, der
Regen trocknet sich ab und ich preise den ersehnten Verpflegungsstand.
Seitdem ich jüngst selbst einmal Helfer sein durfte, weiß
ich wie schwer es ist, alle Wünsche erfüllen zu können
- und arrangiere mich mit dem verbliebenen Angebot. Unerwartet
steigt René aus dem Dickicht und plumpst auf einen Stuhl:
"Ich höre auf!". Wie bitte? So kurz vor dem Ziel?
"Morgen wirst Du es bereuen! Komm, ich warte!" Aber
mein Mitstreiter benötigt Bedenkzeit. Langsam erhöhe
ich den Sicherheitsabstand zu den Sitzmöbeln und beschreite
den breiten Schlussanstieg zur Bergstation Alpspitzbahn.
Ein Windstoß
beißt sich wie Gefrierbrand in meine Hände. Aus dem
Dunst hinter mir heben sich deutlich zwei Silhouetten ab. Heike
ist es tatsächlich gelungen, Renè zu reanimieren!
Selbst kantiger, nasser oder schlammiger Untergrund kann uns jetzt
nicht mehr aufhalten. Als Trio mit sechs Stöcken fluchen
wir nun gemeinsam bergab. Bis Grainau im Sonnenschein vor uns
liegt. Auf dem letzten Gesamtplatz vereint, holen wir auf der
Zeitmatte nach 25 Stunden und 23 Minuten unsere Träume ein
- und feiern den größten Erfolg (Foto).
Den Sieg über uns selbst.
>>
(fast)
Alles über Mirko Leffler
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