Wahrscheinlich
beschreibt der Verwandlungskünstler in seinem neuen Verkaufshit,
wie er vom rechten und linken Wege abkommt.Und nebenbei zwei Möchtegern-Ultras
überrollt. Wenigstens wird meine Digitalkamera als Zeitzeuge
überleben. Immerhin soll sie bis zu 100 Kilo Fremdeinwirkung
überstehen. Aber ob das reicht? Sofort erhöhe ich die
Geschwindigkeit. Bitte, Elisabeth, hilf! Doch es ist zu spät.
Unbändige Schritte verhallen. Direkt hinter uns. Ängstlich
schaue ich mich um. Hape trägt eine Startnummer! Die "98".
Und heißt Andreas Hensel. Mit einem Rucksack, in den locker
eine Gretel passen würde, überholt der Zwickauer. Lässt
uns zurück. Alleine und ausgesetzt! Als Kollateralschaden der
Ultraszene. Augenblicklich haben wir nur noch einen Beistand. Den
ungeliebten "Besenmann". Per Rad. Was nun? Hauptsache
ankommen? Eine Renntaktik muss her, bevor uns die Dunkelheit richtet!
Denn das Zeitlimit liegt bei erbarmungslosen 18 Stunden. Erfreulich
ist, dass unsere Pein wenigstens keine Zuschauer findet. Alle Pärchen
und deren Gäste tummeln sich wohl am Thüringentag im Standesamt.
Oder in der Kirche. Statistisch betrachtet, bleiben ja bei Liebesbekundungen
an extremen Datierungen nur knapp 30 Prozent der Paare auf Dauer
ohne Anwaltskorrespondenz. Ob das künftig wieder für mehr
Belebung an der Strecke sorgt? Nach acht verpflegungsfreien Kilometern
werden die geschundenen Gebeine durch eine aufmunternde Mikrofonstimme
begrüßt. In Tambach-Dietharz.
Bei
Kilometer 64 verweigere ich tapfer eine braungebrannte
und aufreizend unverhüllte Bratwurst. Hah, da rastet Andreas,
der Terminator! Aber wer ruht denn daneben? Bei einer Flasche Radler?
Ups. Das dunkeläugige Rehlein von Kilometer 24, das doch kein
Staffelläufer ist! Der Marktplatz hat soeben den letzten Fußtrupp
vereint. Schnell steht das trügerische Rotwild und torkelt
bergauf. Wie das verstörte Bambi, das gerade seine Mutter verloren
hat. Sofort funkelt es in den Augen der unbarmherzigen Jäger.
Wir nehmen die Witterung des scheinbar waidwunden Tieres auf, um
es vor uns herzutreiben. Doch das scheue Reh flüchtet so rasant,
dass wir kaum folgen können. Noch wissen wir nicht, dass unser
Kitz ein listiger eidgenössischer Fuchs namens Bruno Schneiter
ist, der mit trainiertem Gehschritt schon fünffach in Biel
finishte. Und dabei so manchen Weidmann auf die falsche Fährte
lockte. Arglos schließen wir auf. Trotzdem stimmt das Profil
nicht mit der Karte überein. Wo bleibt das Gefälle? In
meinen Schuhen toben Höllenwinde! Erfolglos wehrt sich der
rechte Fuß gegen seine Mutation, die ihn gerade verdoppelt.
Momentan helfen nur die Liebsten. Psychologisch brillant haben sie
sich in Finsterbergen postiert. Herzensdame Marianne, Töchterchen
Joy und meine leidgeplagten Eltern. Seit Stunden. Die aktuellen
Fahrwerkschäden am Suhler Bummelzug haben zur Ankunftsverzögerung
für Kilometer 74,4 geführt.
Um
15.45 Uhr halten wir. Endlich! 11:45:05 lese ich auf
meiner verkleinerten Bahnhofsuhr. Christian ist seit einer Dreiviertelstunde
durch. Mit diesem satten Vorsprung darf er bald den prophezeiten
warmen Regen genießen. Unter der Brause! Nur Mutti ist außer
sich: "Du kannst nicht weitermachen!" Gerne würde
sie ihren offenbar todgeweihten Sohn in das Auto zerren, aber der
Familienbund verhindert das Inferno. Folgt die pädagogische
Bestrafung? Entsetztes Minenspiel: "Was, kein Haferschleim?"
Na gut. Insgeheim sind unsere Verdauungsorgane überlebensfroh,
dass das erwärmte Gebräu vor unserem Eintreffen explodierte.
Der Schleim hatte vorhin schon etwas voluminös gewirkt. Vielleicht
war die Rezeptur fehlerhaft? Sofort lauschen wir. Aber noch herrscht
Windstille im Magen-Darm-Trakt. Mama kann inzwischen mit einem Gruppenfoto
besänftigt werden. Betont gesellig sitzen wir neben Bruno und
Andreas. "Ich habe kein Problem, zu viert anzukommen!"
höre ich überraschend. Aus meinem Mund! Ist das die endgültige
Kapitulation? Doch Bruno, der Fuchs im Rehpelz, zerstört den
Nichtangriffspakt. Mit seinem Aufbruch. Schade! Schnell verabschieden
wir uns. "Bis später!" Wortlos greift Uwe an. Erstaunt
bleibe ich dicht in seinem Schatten und imitiere jeden Schritt.
Sein Wille regiert. Nur, in welcher Frequenz? Für Minuten swingt
es wie Musik. In unseren Beinen! Erst als die halbe Kampfgruppe
abgeschlagen ist, hält mein Tempomacher an. Hört kurz
in sich hinein. Nutzt die einzige Chance, um seine Schwindel-Attacken
zu bekämpfen. Und um nicht bewusstlos zu werden. Aber reicht
das? Ist das Gefecht wirklich entschieden? Am Kilometerpunkt 79
wandert Sebastian Niller. Ein Gefährte vom Einheitslauf 2006!
Sebastian, der Eisfelder, wird auch diesen Ultra überstehen.
Trotz seiner Beinverletzung, mit der er letzte Woche kaum gehen
konnte. Respekt! Wir hasten über schimmernde Wiesen und durch
entseelte Orte. Kilometerweit sind keine menschlichen Lebenszeichen
mehr auszumachen. Nirgends! Hat sich der "Besenmann" tatsächlich
neue Opfer gesucht? Oder verbrennt uns "Tante Klara" gerade
das Hirn? Wir waren vorhin schon einmal hier! Drehen wir im Kreis?
Fragend schaue ich zum nächsten Massiv. Aber von dort feixt
schon wieder der Große Inselsberg! Haben uns die Richtungspfeile
getäuscht?
Halt, da ist Kilometer 90! Ausgelassen
wird der Held des Tages empfangen. Die Versorgungsmannschaft jubelt:
"Nummer 1, wir haben lange auf dich gewartet!" Wurde seine
Attacke etwa live im Radio übertragen? Nur gut, dass die vergnügten
Helfer nicht erraten, was Uwe gerade geleistet hat. Ohne Training!
Was passiert erst, wenn er sich konzentriert vorbereitet? Ist das
dann die Endstation? Wahrscheinlich! Wie Udo Jürgens würde
er im Strudel ausgehungerter Ruheständlerinnen ertrinken. Spätestens
jetzt wäre er allerdings auch seinen verschwitzten Bademantel
los. "Uuuuwwweee!" hallt es weit über die Landstrasse.
Langsam wird selbst mir der Kult unheimlich. Dabei sind wir fast
bei Kilometer 95, dem vorletzten Verpflegungspunkt! Wartet wieder
eine Eskorte des Faschingsvereines? Oder gar ein japanischer Reisebus?
Abrupt enttarnt sich das Fantreffen als One-Man-Show. Ist das Chrissi?
Kopftuchfrei? Wahnsinn! Aber warum? Fürchtet er sich alleine
unter der Dusche? Seine Motorik verrät die Antwort. Der kurzzeitige
ICE transformierte zum Schlafwagen. Vor 15 Kilometern! Ferndiagnose:
Achsenbruch. Doch es ist nur die Mechanik, die streikt. Der linke
Fuß ist "heißgelaufen". Willkommen im Club!
Zusammen schleppen wir uns über den Asphalt. Was für ein
köstliches Bild! Allerdings
nur für phantasievolles Publikum, das Aufnahmen für einen
Kinokracher vermutet. Dem Anschein nach wird soeben an der deutschen
Version von "Toy Story" gedreht. Und als arme verstümmelte
Spielzeugpatienten versuchen wir verzweifelt, dem bösen Dr.
Zeit zu entfliehen. Leider beherrscht der fiese Psychotricks und
hat die Kilometerschilder falsch postiert. Prompt kann ich den gekonnten
Gehschritten der Kameraden nicht mehr folgen, sondern lediglich
zähflüssig trippeln! Unerwartet liege ich dadurch zweihundert
Meter vor meinen Leidensbrüdern. Noch vor 20.00 Uhr. Weniger
als 16 Stunden sind machbar! Uwe brüllt: "Mirko zieh`
ab, das schaffst du noch!" Wie versteinert bleibe ich stehen.
Der gemeinsame Sieg ist wichtiger! Die letzten Meter treiben uns
voran. Schon werden wir mit Applaus verzückt. Ist der wirklich
für uns? Hoffentlich nicht bloß aus Mitleid! Hand in
Hand überqueren wir die Ziellinie und bekommen die gleiche
Endzeit geschenkt: 16 Stunden, 2 Minuten und 6 Sekunden.
Hurra, es ist vollbracht! Zitternd
schrecke ich auf. "Ab jetzt nur noch Marathon!" zischt
es neben mir. Will Christian seine
achtbare Ultrakarriere beenden? Für immer? Was für eine
tolle Nachricht! Zumindest für die Mitstreiter seiner Altersklasse.Chrissi
scheidet mit Platz 3 aus der Liga M20. Aber sofort wärmt mich
ein Lichtblick. Wo hatte denn mein Idol Frank Sinatra sogar ein
halbes Dutzend Comebacks? Natürlich auf seinem "Way"!
Als Zwanzigster der M35 reicht es für mich lediglich zum vorletzten
Platz. Altern kann ziemlich ungerecht sein! Das spürt auch
Uwe. In der M40 liegt "Die Eins der Herzen" auf dem 23ten,
dem letzten Platz. Genau so wie es der Volkmund mag! Doch
am Ende der langen Reise haben wir vor allem uns selbst gefunden.
Und ich in Uwe nicht nur einen treuen Begleiter, sondern auch einen
wertvollen Freund.
|