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Melancholische
Töne schweben wie ein grauer Klangteppich über
dem Startplatz. Noch immer lähmt mich der erste Eindruck aus
unbarm-herziger Fahrweise und chaotischen Hup-konzerten der Autos,
die wie ein langsam wirkendes Gift unablässig in das Herz dieser
City gepumpt werden. In eine Metro-pole,
die am Tropf hängt und scheinbar längst einen Infarkt
erlitten hat. Was ist am 21. Oktober 2012
noch zu spüren, was ist übrig vom Mythos des Hollywood-Kultfilms,
der hier nie gedreht wurde? In wenigen Minuten will ich mir die
Antwort beim 5. Grand
Marathon Interna-tional de Casablanca schwarz-weiß
erlaufen. Pünktlich um 7.30 Uhr fällt die Klappe vor dem
Sportkomplex Bourgogne. Frühzeitig bin ich umringt von mehr
als 150 Mitstreitern, darunter hochkonzentrierte Eliteläufer,
bunt-kostümierte Franzosen, unverschleierte oder
kopfbetuchte weibliche Schönheiten und einem Zahnarzt,
der die südafrikanischen Nationalfarben auf seinen Armlingen
präsentiert (Foto oben).
Dr.
Mohammed Rafiq Isaacs hat für die anvisierte persönliche
Bestzeit unter vier Stunden und 19 Minuten eine 20-stündige
Flugreise auf sich genommen! Wird sich sein Stundensatz rechnen
oder zeigt ihm die
Strecke heute die Zähne?
Obwohl ich eigentlich nur Spaß haben will, mime ich den Regisseur
und ernenne den Medizinmann aus Kapstadt spontan zu meinem Hauptdarsteller,
den ich bei seiner Mission unterstütze. Nur: wie lange wird
das gut gehen? Es herrscht Stille auf den palmengesäumten Alleen
und so plaudern wir über den fabelhaften Two
Oceans Marathon und den unvergleichlichen Comra-des Marathon
in Rafiqs Geburtsland. Die Morgensonne spiegelt sich auf stilvoller
Glasfassade. Unterdessen werden wir akribisch von Polize-ieinheiten
beobach-tet, die die Kreuzungen für unseren Weg zum Ozean freihalten.
Nichts ist zu spüren vom lebens-bedrohlichen Blut-hochdruck
der Millionen-stadt. Plötzlich werden wir wie magisch angezogen.
Weit vor uns strebt ein über 200 Meter hohes Vierkan-tminarett
himmelwärts.
Kein Zweifel! Es ist der neue Leuchturm des Islam und welthöchster
Sakra-lbau, der, inspiriert vom Koranvers "Gottes Thron stand
auf dem Wasser", seit 1993 auf Pfeilern im Atlantik ruht: die
Moschee
Hasan II (Foto).
Beein-druckt schieben wir uns über den großen Platz Richtung
Kilome-terpunkt 5. Wäsche baumelt zwischen Balkonen und Fenstern
an einem Mietshaus, aus dem uns drei junge, attraktive Frauen zujubeln
(Foto). Erneut
beäugen wir das kostenintensive Wahr-zeichen der Monarchie,
bevor uns Anfeuerungsrufe aus dem Inneren eines Transporters ablenken.
Nanu? Schafe werden hier wohl nur Seite an Seite mit ihren Besitzern
transpor-tiert! Sind wir denn die einzigen Esel, die zu Fuß
unterwegs sind? Lachende Putzkolonnen sausen mit ihren Besen auf
Mopeds vorüber, Helferinnen in Orange weisen uns zur erhaben
schimmernden Kathedrale Sacré Coeur.
Das koloniale Bauwerk verformt schlagartig mein neu-westliches Weltbild,
denn der ehemalige Andachtsort ist offen-sichtlich ein Symbol für
viele katholische Kirchen, die - von zahlreichen Gläubigen
noch immer regelmäßig besucht - friedlich auf muslimischem
Boden stehen. Manche Erkenntnis muss man sich einfach selbst erlaufen!
Breite
Prachtstraßen mit bunten Werbebannern führen uns nun
in das Gebiet des Twin
Center. Die beiden Hochhaustürme dekorierten noch vor
ein paar Jahren allein den Ruf der euro-päisch beseelten Großstadt,
die fortwährend im Umbruch ist - die traditionell sein und
trotzdem modern wirken will. Bewaffnete Organe stehen weiterhin
unbewaffnet als kritische Wachposten auf jedem Kilometer. Allerdings
kümmert das die aus dem Nachtschlummer erwachten Kraftwagen
wenig. Sind wir jetzt die üblichen Verdächtigen, die an
jeglicher Flucht gehindert und auf dem Teer festgesetzt werden sollen?
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Nur gegenüber läuft das Rennen wie im Film ab: die Marathonstars
jagen die dreispurige Fahrbahn hinunter! Innerhalb von Sekunden
wandele ich mich vom Neben-darsteller zum Statisten. Trotz zahlreicher
Verpflegungspunkte dreht sich mein Wirtschaftsmotor leider nicht
nur mit Wasser. Die Nahrungszufuhr ist momentan so beschnitten wie
die aktuelle Mach-tbefugnis des Königs! Doch ein Kiosk entpuppt
sich als Rettungsinsel und bringt mich mit Cola wieder auf Touren.
Beflügelt eile ich Rafiq nach,
um ihm ein paar Schlucke des Zaubertranks zu reichen. Frustrierte
Fahrzeuglenker bedienen trotzig ihr Signalhorn, weil extra für
uns die Hauptstraße gesperrt wird. Belustigt und dankbar winken
wir der Blechkolonne zu. Nach 2:08:59
ist die erste Streckenhälfte im Kasten
.
Die Sonne blendet wie aus tausend Scheinwerfern und ich lasse Rafiq
alleine weiterziehen. Lauf mir aus den
Augen, Löwe! Kann der beherzte Zahnarzt seine Wunschzeit
noch erreichen? Auf dem Boulevard de la Corniche wiederholen sich
jetzt Sequenzen, die einen wahren Klassiker ausmachen: Hingebung,
Schmerz und Leidenschaft! Hunderte Halbma-rathonläufer strömen
bei 24°C lächelnd, völlig fokussiert, tänzelnd,
schwer atmend, locker oder humpelnd vorbei. Unter einer überdimensionalen
Sindbad-Figur wird die Promenade von einem DJ beschallt. Am liebsten
würde ich
rufen "Spiel`s
noch einmal, Sam!", aber es ist zu laut. Dafür
folgt ganz großes Kino. Vor dem imposanten IMAX und der Morocco
Mal (Foto)l, frisch eröffnetes
und derzeit größtes Shoppingcenter Nordafrikas, ist die
Wendestelle erreicht.
Am nächsten
Ver-pflegungspunkt ergattere ich unerwartet die Hauptrolle und werde
- wie Humphrey Bogart von der Filmcrew - mit Gaben behäuft.
Liebend gern verbrüdere ich mich sofort mit zwei hübschen
Schwestern (Foto).
So
habe ich mir Casablanca vorgestellt! Garniert mit malerischen Stränden,
luxuriösen Villen, erstklassigen Fitness-tempeln, erlesenen
Restau-rants, sauberen Swimming Pools: edel und mondän. Leider
muss ich fort. Hinter einer dicken Mauer duckt sich auf einmal ein
Slum-Viertel, davor spielen acht Jungs fröhlich Fußball
- während auf der anderen Seite ein neuzeitlicher Zirkus Station
hält. Vermutlich ist der marokkanische Kontrast zwischen Armut
und Reichtum, Vergangenheit und Zukunft nirgends so stark wie an
diesem Ort. Überrascht
entdecke ich meinen Helden auf der Gegenspur. Aber ich empfange
von Rafiq nur noch einen gequälten Gruß aus dem jegliche
Zuversicht erloschen ist. Die Hitze hat
dem tapferen Dentisten quasi den Zahn gezogen.
Ich
verabschiede mich von der alles überragenden Moschee, dem Denkmal
an Hasan II, das sich der damalige Herrscher von seinem Volk großmütig
zum Geburtstag schenken ließ und plane eine kurze Auszeit
hinter einem netten Mauervorsprung. Aufge-schreckt vom dort depo-nierten
Unrat gewinne ich doch wieder an Tempo. Manchmal
ist es besser, nicht hinter die Kulissen zu schauen!
Mutig trete ich nun der wachsenden Fahrzeugschar entgegen und verteidige
meinen Platz auf dem Asphalt bis ein rhythmisches Pfeifen ertönt.
Ein Biker im Helferoutfit drängt mir zuliebe die Autos zur
Seite. Was für ein Service! Larsen ist ein furchtloser Ironman
und geleitet mich souverän bis zum Stadion, wo ich nach 4:54:59
mein Happy
End finde.
Ein
kleiner Marathon mit großem Namen, sympathischen Menschen
und riesigem Potential hat mich mit "Casa"
versöhnt. Vielleicht ist dies ja wirklich der Beginn einer
wunderbaren Freundschaft...
>> dieser Bericht wurde vorab in Spiridon
2/2013 veröffentlicht
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