"Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft"

5. Grand Marathon International de Casablanca
23.09.2012

Bericht von Mirko Leffler


Melancholische Töne schweben wie ein grauer Klangteppich über dem Startplatz. Noch immer lähmt mich der erste Eindruck aus unbarm-herziger Fahrweise und chaotischen Hup-konzerten der Autos, die wie ein langsam wirkendes Gift unablässig in das Herz dieser City gepumpt werden. In eine Metro-pole, die am Tropf hängt und scheinbar längst einen Infarkt erlitten hat. Was ist am 21. Oktober 2012 noch zu spüren, was ist übrig vom Mythos des Hollywood-Kultfilms, der hier nie gedreht wurde? In wenigen Minuten will ich mir die Antwort beim 5. Grand Marathon Interna-tional de Casablanca schwarz-weiß erlaufen. Pünktlich um 7.30 Uhr fällt die Klappe vor dem Sportkomplex Bourgogne. Frühzeitig bin ich umringt von mehr als 150 Mitstreitern, darunter hochkonzentrierte Eliteläufer, bunt-kostümierte Franzosen, unverschleierte oder kopfbetuchte weibliche Schönheiten und einem Zahnarzt, der die südafrikanischen Nationalfarben auf seinen Armlingen präsentiert (Foto oben).

Dr. Mohammed Rafiq Isaacs hat für die anvisierte persönliche Bestzeit unter vier Stunden und 19 Minuten eine 20-stündige Flugreise auf sich genommen! Wird sich sein Stundensatz rechnen oder zeigt ihm die Strecke heute die Zähne?

Obwohl ich eigentlich nur Spaß haben will, mime ich den Regisseur und ernenne den Medizinmann aus Kapstadt spontan zu meinem Hauptdarsteller, den ich bei seiner Mission unterstütze. Nur: wie lange wird das gut gehen? Es herrscht Stille auf den palmengesäumten Alleen und so plaudern wir über den fabelhaften Two Oceans Marathon und den unvergleichlichen Comra-des Marathon in Rafiqs Geburtsland. Die Morgensonne spiegelt sich auf stilvoller Glasfassade. Unterdessen werden wir akribisch von Polize-ieinheiten beobach-tet, die die Kreuzungen für unseren Weg zum Ozean freihalten. Nichts ist zu spüren vom lebens-bedrohlichen Blut-hochdruck der Millionen-stadt. Plötzlich werden wir wie magisch angezogen. Weit vor uns strebt ein über 200 Meter hohes Vierkan-tminarett himmelwärts.

Kein Zweifel! Es ist der neue Leuchturm des Islam und welthöchster Sakra-lbau, der, inspiriert vom Koranvers "Gottes Thron stand auf dem Wasser", seit 1993 auf Pfeilern im Atlantik ruht: die Moschee Hasan II (Foto). Beein-druckt schieben wir uns über den großen Platz Richtung Kilome-terpunkt 5. Wäsche baumelt zwischen Balkonen und Fenstern an einem Mietshaus, aus dem uns drei junge, attraktive Frauen zujubeln (Foto). Erneut beäugen wir das kostenintensive Wahr-zeichen der Monarchie, bevor uns Anfeuerungsrufe aus dem Inneren eines Transporters ablenken. Nanu? Schafe werden hier wohl nur Seite an Seite mit ihren Besitzern transpor-tiert! Sind wir denn die einzigen Esel, die zu Fuß unterwegs sind? Lachende Putzkolonnen sausen mit ihren Besen auf Mopeds vorüber, Helferinnen in Orange weisen uns zur erhaben schimmernden Kathedrale Sacré Coeur.

Das koloniale Bauwerk verformt schlagartig mein neu-westliches Weltbild, denn der ehemalige Andachtsort ist offen-sichtlich ein Symbol für viele katholische Kirchen, die - von zahlreichen Gläubigen noch immer regelmäßig besucht - friedlich auf muslimischem Boden stehen. Manche Erkenntnis muss man sich einfach selbst erlaufen! Breite Prachtstraßen mit bunten Werbebannern führen uns nun in das Gebiet des Twin Center. Die beiden Hochhaustürme dekorierten noch vor ein paar Jahren allein den Ruf der euro-päisch beseelten Großstadt, die fortwährend im Umbruch ist - die traditionell sein und trotzdem modern wirken will. Bewaffnete Organe stehen weiterhin unbewaffnet als kritische Wachposten auf jedem Kilometer. Allerdings kümmert das die aus dem Nachtschlummer erwachten Kraftwagen wenig. Sind wir jetzt die üblichen Verdächtigen, die an jeglicher Flucht gehindert und auf dem Teer festgesetzt werden sollen?

 

Nur gegenüber läuft das Rennen wie im Film ab: die Marathonstars jagen die dreispurige Fahrbahn hinunter! Innerhalb von Sekunden wandele ich mich vom Neben-darsteller zum Statisten. Trotz zahlreicher Verpflegungspunkte dreht sich mein Wirtschaftsmotor leider nicht nur mit Wasser. Die Nahrungszufuhr ist momentan so beschnitten wie die aktuelle Mach-tbefugnis des Königs! Doch ein Kiosk entpuppt sich als Rettungsinsel und bringt mich mit Cola wieder auf Touren. Beflügelt eile ich Rafiq nach, um ihm ein paar Schlucke des Zaubertranks zu reichen. Frustrierte Fahrzeuglenker bedienen trotzig ihr Signalhorn, weil extra für uns die Hauptstraße gesperrt wird. Belustigt und dankbar winken wir der Blechkolonne zu. Nach 2:08:59 ist die erste Streckenhälfte im Kasten

. Die Sonne blendet wie aus tausend Scheinwerfern und ich lasse Rafiq alleine weiterziehen. Lauf mir aus den Augen, Löwe! Kann der beherzte Zahnarzt seine Wunschzeit noch erreichen? Auf dem Boulevard de la Corniche wiederholen sich jetzt Sequenzen, die einen wahren Klassiker ausmachen: Hingebung, Schmerz und Leidenschaft! Hunderte Halbma-rathonläufer strömen bei 24°C lächelnd, völlig fokussiert, tänzelnd, schwer atmend, locker oder humpelnd vorbei. Unter einer überdimensionalen Sindbad-Figur wird die Promenade von einem DJ beschallt. Am liebsten würde ich rufen "Spiel`s noch einmal, Sam!", aber es ist zu laut. Dafür folgt ganz großes Kino. Vor dem imposanten IMAX und der Morocco Mal (Foto)l, frisch eröffnetes und derzeit größtes Shoppingcenter Nordafrikas, ist die Wendestelle erreicht.

Am nächsten Ver-pflegungspunkt ergattere ich unerwartet die Hauptrolle und werde - wie Humphrey Bogart von der Filmcrew - mit Gaben behäuft. Liebend gern verbrüdere ich mich sofort mit zwei hübschen Schwestern (Foto).

So habe ich mir Casablanca vorgestellt! Garniert mit malerischen Stränden, luxuriösen Villen, erstklassigen Fitness-tempeln, erlesenen Restau-rants, sauberen Swimming Pools: edel und mondän. Leider muss ich fort. Hinter einer dicken Mauer duckt sich auf einmal ein Slum-Viertel, davor spielen acht Jungs fröhlich Fußball - während auf der anderen Seite ein neuzeitlicher Zirkus Station hält. Vermutlich ist der marokkanische Kontrast zwischen Armut und Reichtum, Vergangenheit und Zukunft nirgends so stark wie an diesem Ort. Überrascht entdecke ich meinen Helden auf der Gegenspur. Aber ich empfange von Rafiq nur noch einen gequälten Gruß aus dem jegliche Zuversicht erloschen ist. Die Hitze hat dem tapferen Dentisten quasi den Zahn gezogen.

Ich verabschiede mich von der alles überragenden Moschee, dem Denkmal an Hasan II, das sich der damalige Herrscher von seinem Volk großmütig zum Geburtstag schenken ließ und plane eine kurze Auszeit hinter einem netten Mauervorsprung. Aufge-schreckt vom dort depo-nierten Unrat gewinne ich doch wieder an Tempo. Manchmal ist es besser, nicht hinter die Kulissen zu schauen! Mutig trete ich nun der wachsenden Fahrzeugschar entgegen und verteidige meinen Platz auf dem Asphalt bis ein rhythmisches Pfeifen ertönt. Ein Biker im Helferoutfit drängt mir zuliebe die Autos zur Seite. Was für ein Service! Larsen ist ein furchtloser Ironman und geleitet mich souverän bis zum Stadion, wo ich nach 4:54:59 mein Happy End finde.

Ein kleiner Marathon mit großem Namen, sympathischen Menschen und riesigem Potential hat mich mit "Casa" versöhnt. Vielleicht ist dies ja wirklich der Beginn einer wunderbaren Freundschaft...

>> dieser Bericht wurde vorab in Spiridon 2/2013 veröffentlicht


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