"Ski und Rodel gut in Afrika"

5. Marrakesch Marathon
29.01.2006

Bericht von Zenon Karczewski


Es ist Samstag, der 28.01.06. Für heute hatten wir - 10 Dresdner Trolle bzw. "Gast-Trolle" (s. Foto rechts) - zunächst den Besuch des schönen Jardin Majorelle (Foto) geplant (>> s. ursprünglicher Reiseplan) und danach die Marathon-Anmeldung. Es regnet aber dummerweise schon wieder, also - was sollen wir tun? Wir entscheiden uns, direkt zur "Marathon-Messe" zu gehen, zumal sie von unserem Hotel Farah nicht weit entfernt ist. Als wir dort ankommen, regnet es immer noch ziemlich stark, auf dem Place du 16 Novembre sind mehrere Zelte aufgebaut (Foto). In einem davon werden die Start-unterlagen ausgegeben. Das ärztliche Attest will man auf jeden Fall sehen, ein Ausweis wird dagegen nicht mehr verlangt. Man bekommt eine Plastiktüte mit der Startnummer und einem T-Shirt. Mehr gibt es hier bei diesem Wetter nicht zu tun.

Dass es keine Pasta-Party gibt, nehmen wir - selbst der Wolfgang - gelassen zur Kenntnis und gehen zurück ins Hotel, um dort auf Sonnenschein zu warten. Vor dem morgigen Lauf sollte man ohnehin nicht zu viel herumlaufen.

Sonntag 8:00 Uhr liegen wir noch entspannt im Bett. Gefrühstückt wurde allerdings schon um halb sieben. Der Start ist um 9:00 Uhr und wir haben noch viel Zeit, denn Depart/Arivee ist gerade mal einige Hundert Meter von unserem Hotel Farah (direkt neben dem Kenzi Farah) entfernt. 8:40 geht es dann endlich los, wir nehmen nichts weiter mit, denn Gepäckabgabe o.ä. gibt es sowieso nicht. Als wir aus dem Hotel rausgehen, ist es kühl, ich überlege schon, ob ich mir nicht lieber doch noch etwas Wärmeres anziehe. Aber ein Laufhemd und ein Unterhemd sollten eigentlich reichen. Zumal es mit jeder Minute wärmer wird. Als 9:00 Uhr dann der Startschuss fällt, herrscht herrlicher Sonnenschein, die Luft ist angenehm frisch und die Temperatur mag so bei 13 Grad liegen. Linker Hand bewundern wir die faszinierende Sicht auf das Atlas-Gebirge. Wir laufen zunächst Richtung Norden, drehen dann aber 2mal 90 Grad nach links und sind nach ca. 5 km am Flughafen und dann weiter auf der Av. Elyarmouk im Süden von Marakesch (>> Streckenplan ).

Ich folge dem Tempo von Ralf, der eigentlich viel besser trainiert hatte und mir heute wohl mindestens eine Viertel Stünde abnehmen wird. Mal sehen, wie lange ich mithalten kann. Ich fühle mich aber richtig gut, unser Km-Schnitt von etwas unter 5 Min. ist ja auch nicht zu schnell.

Bei Km 10 (48:27'40'') machen wir noch gemeinsam eine Pinkel-pause (das Wasser an den Verpflegungstellen ist viel zu kalt), danach fällt Ralf etwas zurück, bleibt mir aber ständig "im Nacken". Die Strecke verläuft jetzt durch die Jardins de L'AGDAL, an der Stadtmauer entlang und ist sehr schön - viel Grünes, Palmen, Oliven- und Orangenbäume, dazu ein angenehmes Vogelgezwitscher, vor allem der bei uns völlig unbekannte Graubülbül ist überall zu sehen und zu hören (Foto). Für "Ornitrollogie" habe ich jetzt aber keine Zeit. Kurz vor der Streckengabelung (die Halbmarathonis laufen nach links, der wesentlich kleinere Rest - ca. 450 Teilnehmer - nach rechts) drehe ich mich um - Ralf folgt mir immer noch "unauffällig" in einer Entfernung von ca. 50 Metern. Vor mir sehe ich den anderen Ralf, kurz bevor er die gemeisame Strecke verlässt und nach links abbiegt Unser zweiter "Halbmarathoni" Thomas "Stoni" läuft hinter uns, wir hatten ihn bei etwa Km 13 "abgefangen" und überholt. Nach 20 Kilometern sind wir in den "Tanneries" angelangt, wo die Gerber ihrem wenig attraktiven Beruf nachgehen. .

Von dem Gestank merke ich aber nichts. Auf geraden und meist breiten Strassen geht es weiter Richtung Norden. Zuschauer gibt es - bis auf die Kinder - relativ wenige, die Leute gehen ihrem Alltag nach und haben wenig Zeit und Lust, die Helden der Langstrecke zu bewundern. An einer gesperrten Kreuzung, hinter der offenbar ein Wochenmarkt o.ä. stattfindet, sehe ich viele Autos, Eselskarren (Foto), Mopeds und LKW's, die alle um die Wette hupen, es herrscht ein höllischer Lärm, niemand, so scheint es mir, wird aber so richtig aggressiv oder böse.

Überhaupt sind die Menschen in diesem Lande sehr friedlich und freundlich (Foto). So haben wir es zumindest als Touristen erlebt und empfunden. Man fühlt sich auch abends überall sicher. Zurück zum Rennen: Ich laufe immer noch mein gleichmässiges, gutes Tempo, Ralf folgt mir in sicherer Entfernung. Kann er nicht rankommen oder ist es seine perfide Taktik, mich kaputt zu spielen?

Wir überqueren jetzt ein breites Flussbett, in dem aber trotzt der vielen Regenfälle der letzten Tage nur wenig Wasser fliesst, und laufen in ein grosses Palmenareal hinein - in die Jardins de la Palmeraie. Trotz der Palmen macht die Gegend einen wenig aufgeräumten Eindruck. Hinter mir kracht es gerade, ich drehe mich um und sehe wie ein Moped mitsamt einer ganzen Famile mit 2 kleinen Kindern, auf der glitschigen Strasse ausrutscht und buchstäblich im Dreck landet. In einer der vielen braunen Pfützen, die die Regenfälle der letzten Woche hinterlassen haben. Ich bleibe kurz stehen, es ist aber diesmal offenbar nichts Ernsthaftes passiert. Einer der Polizisten, die die Marathonstrecke absichern, eilt ausserdem heran. Also laufe ich weiter, Ralf sehe ich nicht mehr, hat er etwa Probleme? Sollte ich vor ihm ins Ziel kommen? Bald erfahre ich, dass doch alles anders kommen sollte. Nach der Verpflegungstelle bei km 30 (2:24'36'') bekomme ich auf einmal Probleme mit Seitenstechen. Ich muss einmal anhalten, dann nochmal, bei km 31 geht es nicht mehr. Tief einatmen heisst es jetzt für mich, eine Weile ausruhen.

Ralf überholt mich, ich versuche zu folgen. Wir laufen jetzt auf einer relativ schmaler Brücke, mit der Strassen-absprerrung klappt es hier nicht mehr, die Autos hupen und drängen uns zum Strassenrand. Ich lasse mir das gefallen, da ich momentan andere Probleme habe.

Ralf bleibt in der Strassen-Mitte und beantwortet das immer lauter und häufiger werdende Gehupe mit viel Gestikulieren und freundlichen aber bestimmten Gesten. Ich muss wieder anhalten, wieder und immer wieder. Adieu die Zeit von "unter 3:20", mit der ich schon geliebäugelt habe, mit "unter 3:30" wird es wahrscheinlich auch nichts mehr. Ralf's Gestalt wird vor mir immer kleiner, ich laufe mit "angezogener" Bremse weiter und finde keinen Spass mehr an diesem Marathon. Zumal der Strassenverkehr zunimmt und wir Läufer einzeln und mit relativ grossen Abständen zueinander laufen und uns auf den breiten Strassen ziemlich verloren vorkommen. Ich versuche mich jetzt abzulenken, an etwas Anderes zu denken und hole aus dem Gedächtnis die Erlebnisse und die Bilder der letzten Woche: da fallen mir als Erstes die Szenen auf dem Djemaa El-Fna ein: die Wasserträger, die Gewürzhändler, die Schlangenbeschwörer, die Frauen, die die Strickmützen verkaufen (Foto).

Vor allem aber die Szene von gestern nachmittag: Ein Ehepaar kommt an uns vorbei, der Mann muss irgendetwas Unpassendes gesagt haben, denn auf einmal bricht ein Streit zwischen den beiden aus und die Frau versucht, gestenreich ihrem Mann etwas zu erklären. Sie ist jung und schön (Foto), ihr Gesichtsausdruck verändert sich ständig, ich greife nach meiner Kamera und schiesse innerhalb von 4-5 Sekunden mehrere Fotos.

Kurz danach sind die Beiden in der Menschenmenge verschwunden (s. unten "Ehestreit"). Ein anderer Tag und ein ganz anderer Ort: wir sind mit 2 Mietwagen unterwegs Richtung Essaouira, einem beschaulichen Hafenstädtchen an der Atlantikküste. Nach einem 2-stündigen Dauerregen kommt auf einmal die Sonne heraus und wir halten endlich, um eine Pause zu machen. Die Gegend ist sehr schön - hügelig, mit vielen halbhohen Steinmauern. Sie errinnert mich an die "Brücke" von vor 2 Jahren in Andalusien (>> Bericht Sevilla-Marathon 2004). Wir schnappen uns mit Wolfgang unsere Ferngläser, laufen ein Stück einen Feldweg hinauf und beobachten die Vögel. Von weitem kommt eine junge Frau mit einem Esel auf uns zu, ich mache mit dem Teleobjektiv einige Fotos von ihr, sie passiert uns zunächst mit gleichgültiger Miene, dreht sich dann aber nach etwa 20 Metern um und prüft neugierig, ob die komischen Gestalten immer noch da sind. Kurz darauf setzt der Regen wieder ein, wir steigen in unsere Autos ein und fahren weiter. Als ich mir später die Bilder von der "Esels-Frau" genauer ansehe, muss ich über die lustige Mischung aus Kopftuch und einem T-Shirt mit moderner englischer Aufschrift lachen (s. unten "Unterwegs nach Essouira").

Wieder ein anderer Ort: wir sind unterwegs im Atlas-Gebirge, unser Ziel ist der hochgelegene Ort Oukaimeden. Die Gegend ist schön, die Aussichten gewaltig, doch jedesmal wenn wir versuchen, irgendwo zu halten, werden wir sofort von einer ganzen Schaar von Händlern oder Kindern überrant, die uns irgendetwas verkaufen wollen. Die armen Kinder tun uns leid. wir geben dem Einem oder Anderen ein paar Dirrham, können aber nicht alle beglücken, zumal es gleich immer mehr werden.

Also steigen wir schell wieder in unsere Autos ein und fahren weiter. Irgendwo, weiter oben, bietet sich endlich eine "sichere" Stelle an, es scheint weit und breit niemand mehr zu sein, der uns belästigen würde. Also halten wir an und geniessen die schöne, schneebedeckte Landschaft. Irgendjemand, das könnte die 10jährige Magda gewesen sein, wirft den ersten Scheeball Richtung Peter. Peter wirft zurück, daraufhin bricht innerhalb von wenigen Sekunden eine regelrechte Schneeball-Schlacht aus - Jeder gegen Jeden.

Auch die vorbeifahrenden Autos werden beworfen, die Insassen nehmen es aber mit Humor, winken und hupen uns freundlich zu. Unser Spassvogel "Obertroll" Peter ahmt zudem den "Effe-Finger" der Berber-Kinder nach , was für zusätzliche Heiterkeit sorgt. In Oukaimeden angelangt, kreiren wir angesichts der perfekten Wintersport-verhältnisse den Spruch der Woche: "Ski und Rodel gut in Afrika" (s. auch unten "Im Atlas-Gebirge"). Zurück zum Marathon - mittlerweile bin ich an der der Kreuzung Boulevard Mahomed V und Avenue Mohamed Abdelkrim el Khattabi (Foto) angelangt. Kurz danach erkenne ich auf der rechten Seite "unseren" Supermarkt wieder, in dem wir in den letzen Tagen ein paar Mal eingekauft haben. Andere, ähnliche Supermärkte haben wir bei dem vielen Herumlaufen in Marrakesch oder bei den Ausflügen ins Umland nicht gesehen. Kein Lidl, kein Aldi, kein XYZ-Markt, meistens nur kleine "Tante-Ema-Läden".

Die letzen 5 Kilometer. Augen zu und durch - heisst es jetzt für mich. Mit gequältem Lächeln beantworte ich die gelegentlichen Anfeuerungsrufe der Zuschauer. Noch 2 Kilometer, noch einer, endlich sehe ich das grosse Tor, wo "Arrivee" drauf steht (Foto unten). Geschafft! 3:34:10 (offiziell: 3:37:20) bei meinem 60. Marathon.

Na ja, es hätte schlimmer kommen können. Im Ziel gibt es etwas zu trinken, ich setze mich am Strassen-rand nieder und lasse mir die Mittags-Sonne ins Gesicht scheinen. Es ist warm, keine Wolke am Himmel, ich sitzte da und geniesse die Stimmung. Halt! - fällt es mir auf einmal ein. Wo gibt es eigentlich die Medaillen?

Ich stehe wieder auf und frage einen der Ordner danach. Er schaut mich aber milde lächelnd an und sagt erstaunt: "Medaillen?, ooh die gibt es schon lange nicht mehr". Er ist so freundlich und so nett, dass ich ihm gar nicht böse sein kann."Wolfgang (Foto) wird einen Herzinfarkt bekommen, wenn er das erfährt, und unser Obertroll Peter wird wohl den ganzen Zielbereich in einen Trümmerhaufen verwandeln" - kommt mir spontan in den Sinn. Egal, es gibt Schlimmeres als keine Marathon-Medaille zu bekommen. Ich gehe ins Hotel, wobei mir der Weg (komischerweise) jetzt viel länger als heute früh vorkommt. Die offiziellen Zeiten unserer "Marathonis": Ralf: 03h27m37 (Platz 130 von 373 bei Männern), Zenon: 03h37m20 (162), Silvia: 04h10m06 (37 von 73 bei Frauen >> Ihr Bericht), Wolfgang: 04h16m25 (307), Peter: 04h25m45 (329). Halbmarathon: Ralf II: 01h40m33 (Platz 391 von 998), Thomas: 01h49m56 (540).

Unsere Medaillen (Foto) bekommen wir dann nach mehrmaligem Nachfragen am nächsten Tag ins Hotel geliefert. Nach einem Schläfchen im Hotel gehen wir wieder auf den Djemaa-el-Fna und geniessen die Abendstimmung auf dem schönsten Platz Marokkos (Foto, s. auch unten "Auf dem Djemaa El-Fna"). Nur das Treppensteigen zur Aussichtsterrasse des Cafe ARGANA fällt nur diesmal etwas schwer.

Am nächsten Tag stürzen wir uns ins wilde Einkaufs- und Feilschvergnügen in den Souks. Dienstag vormittag, kurz vor dem Heimflug wird noch bei Kaiser-Wetter der Besuch des Parks Jardin Majorelle nachgeholt.

Danach heisst es: Adieu, schönes Marokko!

>> ältere Version von diesem Bericht

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