"Ich rannte einfach irgendwie weiter, nach irgendwo..."

1. Tirana Marathon
21.10.2012

Bericht von Peter Maier


Was hatte ich mir da bloß überlegt: Tirana Marathon in einem kleinen "Bergland", der letzten sozialistischen Bastion? Albanien, eher wohl nicht, ist heute eine parlamenta-rische Republik. Ich flog von Berlin über Wien nach Tirana, wo zwischendurch mein Sportfreund Hanno zu mir stieß. Der Ausschrei-bung zufolge war die Marathon-Expo auf dem Skanderbeg Platz mitten im Herzen Tiranas und gleich neben unserem Hotel. Es klappte alles perfekt, freundliche junge Mädels gaben uns die Start-unterlagen (Foto) und Oriona Fjerza, die hübsche Cheforganisatorin, freute sich über unsere deutsche Teilnahme. Eine deftige Pizza mit gutem albanischem Bier aus Korça vollendete den ersten Tag und lies auf Gutes hoffen…

Marathontag: Gut geschlafen, gefrühstückt und gelaunt gehen Hanno (Foto rechts) und ich (Foto links) zum Start auf den Skanderbeg Platz.

Sagenhaft, dort sind schon viele, besonders junge Menschen und alle in Sportkleidung. Ich schau mir alles an, mache viele Fotos und, ja wer ist das, ich treffe Hartmann Stampfer, einen italienischen Marathonie, der später auch über diesen Lauf berichten sollte (>> Sein Bericht).

Ich stehe in der ersten Reihe, plötzlich kommen breitschultrige Anzugsträger und geleiten einen Herrn an die Startlinie. Es ist der Ministerpräsident Sali Berisha.
Er geht auf uns zu und drückt unter anderem auch mir die Hand und wünscht alles Gute für den Lauf. Nun werden viele Reden gehalten, die Startzeit vergeht und es wird weiter viel geredet. Plötzlich hat der Ministerpräsident die Startpistole in der Hand, lässt sich deren Handhabung kurz erklären (Foto) und da knallt es auch schon. Der Startschuss sollte für alle Disziplinen einzeln erfolgen. Aber welch ein Unglück, alle ca. insgesamt 3000 Starter rennen wie die Wahnsinnigen los. Die 5 km Läufer, alles junge Kerle, sprinten an mir vorbei, als wäre ich ein Statist. Nach 3 km sehe ich viele von Ihnen, die sich am Straßenrand übergeben…ja, ja, das ist Anfängerpech, sie rannten eben viel zu schnell los.
Die Streckenführung durch Tirana sollte ein Rundkurs sein, ich war guter Hoffnung, dass alles klappt. Nach ca. 5 km war es jedoch mit der Absperrung der Straße vorbei.

Ich sah nur noch sporadisch einen Läufer vor oder hinter mir, denn ca. 50 Marathonies waren eh nur am Start. Autos über Autos, geschätzt die meisten höchstens Jahrgang 1990 fuhren an mir vorbei und ich schluckte nur noch Abgase (Foto). Es war nicht auszuhalten, mir war so zum "kotzen"!

Ja, ich denke an Algier zurück (>> mein Bericht), mein Gott, das war ja ein Kinderspiel dagegen, schlimmer geht's nicht. Die Autofahrer versuchen mich hier einfach umzufahren, unglaublich! Die wenigen Kontrollposten, die Helfer und die eingesetzte Polizei sind machtlos.

Dann plötzlich eine scharfe Rechtskurve, da sind auch nur wenige Autos, links ein kleines Flüsschen mit etwas grün drum herum (Foto) und irgendwie mehr Sauerstoff in der Luft, herrlich. Nach ca. 40 min war ich an der 10 km Marke. Was, wie, hier? Die Streckenführung konnte nicht stimmen. Ich denke an Hartmann zurück, der mir am Start seine mitgenommene Marathon-streckenführung gezeigt hatte. Hätte ich es mal auch gemacht…egal, noch hatte ich Elan! Ich fragte die Streckenposten, was denn hier los wäre, sie wussten von nichts, sie hoben die Hände. Es war unglaublich. Der eine deutete mir an, nach links weiter zu laufen, der andere nach rechts, verflucht, was soll ich machen? Ich rannte irgendwie weiter, einfach nach irgendwo, ein Helfer sagte mir noch, ich müsste um einen See herumlaufen. Ja um welchen denn, und wo ist der? Frage über Fragen, ich sah plötzlich weit vorn einen Läufer. Ich zog mein Tempo an, derzeit waren kaum Autos um mich herum. Und wirklich, ich lauf auf ihn auf und jetzt schien die Laufstrecke wirklich um einen See zu verlaufen (Foto).

Vielleicht war ich bei km 13, im Nachherein sah ich, dass auf der theoretischen Streckenführung für die Seeumrundung km 25 bis 30 vorgesehen waren. Ich sah vereinzelt Läufer, fragte Spaziergänger, ob ich hier richtig sei, ja, natürlich, alles okay…Na gut, bin ich jetzt also wieder richtig im Kurs.

Hier im "Parku i madh" war tolles Laufen, Bäume, Wasser, gute Luft, Kaffees, junge Mädchen (Foto), einfach Spitze. Aber da war es auch schon vorbei. Irgendeiner zeigte mir, "da musst du weiter laufen" und ich tat es. Ich war wieder voll in der Stadt, dann ich Zentrum. Das kommt mir doch schon vertraut vor? Plötzlich waren wieder viele Helfer da. Was, ich traue meinen Augen nicht, da ist das Ziel!!! Das ist Weltrekord, ich bin im Ziel in 1:45 h? Ich sehe die spätere Siegerin, sie irrt auch so herum, auch sie sollte schon ins Ziel laufen. Was jetzt kommt, ist kaum wiederzugeben oder zu beschreiben. Die Helfer packten mich an und wollten mich ins Ziel führen, aber ich riss mich los. Ich sei Marathonläufer und für die Marathondistanz sei hier noch längst nicht das Ziel, die Jungs begriffen nicht, was ich wollte. So eine Scheiße, was soll ich machen?

Ich fasste einen Entschluss, ich werde einfach laufen, laufen, irgendwo in Tirana. So lief ich wieder die Strecke, die ich vom Start weg gelaufen bin, irgendwie erkannte ich die Straßen wieder. Ich wusste natürlich, dass ich hier falsch war. Und das verrückte war, ab und zu sah ich mal einen Läufer, der meinen Weg kreuzte!


Ja, kreuzte, denn kein Läufer wusste mehr wo er langlaufen sollte. Ich lief irgendwie weiter, ich kämpfte mich weiter durch die Autokolonnen hindurch. Bei ca. 1:55 h weiche ich einem von hinten zu dicht aufgefahrenen Auto aus, fotografiere dieses und in diesem Moment kracht es auch schon. Ein Auto war rückwärts gefahren und ich knallte beim wieder vorwärtsschauen voll in das Auto. Ich spüre keinen Schmerz, nur unendliche Wut. Wut auf mich, auf die Autos, auf diese verfluchte Streckenführung, auf die völlig überforderten Helfer, auf alles!

 
Aber mit mir nicht! Was sollte ich machen? Gebrochen hatte ich mir bei dem Aufprall zum Glück nichts, wieder Schwein gehabt! Also rannte ich weiter.

Ich lief irgendwo in Tirana, ab und zu war auch mal ein Polizist, der mich verwundert ansah, danach auf meine Startnummer schielte und mich irgendwie weiterschickte. Was ist das, ich höre schnaufen hinter mir und da überholen mich auch schon die drei führenden Läufer (Foto) mit einem begleitenden Radfahrer. Ha, ha, Jungs, auch Ihr seid hier völlig falsch…plötzlich sehe ich das 10 km Schild, ja, hier war ich schon mal. Ich laufe oder springe über völlig unwegsame Pfade mitten in der Stadt und ein wenig später kommt mir das 20 km Schild wie einen Fata Morgana vor, aber da war ich schon 2:30 h unterwegs…Die hübsche Helferin (Foto) sagte mir, ich würde genau falsch herum laufen, ich sollte bitte sofort umkehren oder zurückfahren. Ich rannte aber weiter in die falsche Richtung. Dann sagt auch ein Polizist, ich sollte umkehren. "Niemals", sagte ich.

Da sah ich die Stadtautobahn SH2 neben der "Rruga Industriale" und ich fasste den Wahnsinns-entschluss: ich werde auf dem Randstreifen laufen in Richtung der Tirana umgebenden Berge. Inzwischen hatte mir eine mitleidige Frau eine große Wasserflasche geschenkt, es war auch brütend heiß geworden. Ich rechne mir die Zeit aus, die ich benötige, um einen Wende-punkt zu finden, von dort zurückzulaufen und dann in der Stadt irgendwie das Ziel wieder zu finden. Dieses war ja zumindest auf dem Skanderbeg Platz.Aber so weit war ich lange noch nicht. Die entgegen-kommenden Autos hupten mich an, ließen mich aber auf dem Randstreifen laufen. Seit weit über einer Stunde hatte ich keinen Läufer mehr gesehen. Und jetzt, 3:08 h nach dem Start, arg geschunden,aber mental - zum Glück - total fit, setze ich meinen eigenen Wendepunkt. Ich mache noch zwei Fotos, als Beweis, wie weit ich gerannt bin (Foto) und kehre um.

Ich komme wieder an die 20 km Marke. Da war der Polizist vor vorhin. Er zeigte mit dem Daumen nach oben und sagte: "Du bist stark gelaufen, ich lasse Dich jetzt ins Ziel fahren". "Was?", ich deute ihm an, NEIN! Sofort laufe in weiter, ja es ist Richtung Zentrum, denn ich sehe weit hinten das Hotel Tirana. Aber ich musste wieder zwischen den Autos laufen, es war schrecklich.

Plötzlich war wieder ein Polizist, diesmal auf einem Motorrad, neben mir. Er sagt, er wolle mich ins Ziel fahren, ich sollte aufsitzen. Wieder sagte ich nein, ich renne, egal was passiert. Er sagte: Okay und macht seine Warnanlage an. mir kamen die Tränen, ich weiß nicht warum. Es war der Wahnsinn. Ich konnte es nicht fassen, sollte also in Begleitschutz mit Blaulicht bis ins Ziel eskortiert werden (Foto)? Plötzlich war auf der "Rruga Dritan Hoxha" und danach auf der "Rruga e Durrësit" die halbe Straßenseite für mich frei. Ha, die Leute auf den Fußwegen staunten nicht schlecht, schauten auf meinen Begleitschutz und machten Fotos. Natürlich rannte ich jetzt viel zu schnell, ich fühlte diesen emotionalen Wahnsinn, wie ich über den Asphalt zu schweben schien. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr, schemenhaft nur in Umrissen nahm ich alles um mich herum war, ich war selig! Das Blaulicht links neben mir verlieh mir Kraft und dann plötzlich nahm ich die Armbewegung "meines" Polizisten wahr, er hielt den Daumen nach oben und deutet auf das in 50 m aufgebaute Ziel und entließ mich in Richtung Zielbanner.

Ich lief in 3:47:07 h durchs Ziel, rannte den Marathon oder 41, 42 oder 43 km? Ich weiß es nicht so genau. Aber: ich hatte überlebt, irgendwo in Tirana! Ich erhielt die wahrscheinlich letzte Medaille und kurz nach mir wird schon die Zeitnahme abgebaut. Die Cheforgani-satorin Oriona schreibt gerade Urkunden an die angeblichen Altersklassen-sieger aus. Der eine war 45 min eher im Ziel als ich, aber ich hatte ihn zweimal überholt… Es wird wohl nur zwei Marathonies gegeben haben, die den vollen Marathon gelaufen sind: Hartmann Stampfer (Foto) und mich! Ich sage Oriona, dass heute hier vieles nicht gestimmt hat, sie tat mir leid. Aber Sie lud Hanno und mich für abends zu einem Dinner ins Hotel Tirana ein. Abends hatte sich mein Ärger über die vielen Missstände bei der Marathonveranstaltung schon fast gelegt. Beim Dinner gratulierte ich dann Oriana (Foto in der Mitte) zu dem überstandenen 1. Tirana Marathon und versprach die vielen "kleinen" Mängel in Ruhe zu notieren, damit der 2. Tirana Marathon ein Erfolg werden kann.

Hanno war bei dem köstlichen Dinner und dem vielen Wein nicht zu halten, er war fit, war ja auch nur eine Strecke von 5 bis 10 km gelaufen. Ich amüsierte mich üben die vielen Krawattenträger, die sich gegenseitig in ihren Ansprachen übertrafen.

Auch die beiden Sieger des Marathons, Elisha Kiprotic aus Kenia und Zvetlana Shebeljeva aus Moldavien waren da und wurden geehrt. Aber welche Strecke sind sie gelaufen, wo sind sie gelaufen, keiner wird es wissen. Und so endete dieser ereignisreiche Tag bei gutem "Tirana Beer". Den nächsten Tag fuhren wir früh nach Kruja. Auf der Autobahn SH2 konnte ich Hanno meinen gestrigen Wendepunkt zeigen, er konnte es nicht glauben, wie weit ich auswärts von Tirana gelaufen war. Die Festung Kruja ist für das albanische Volk ein nationales Heiligtum. Von hier aus verteidigte Skandebeg, der absolute Volksheld, jahrzehntelang Albanien gegen die vordringenden Osmanen (Foto). Weiter fuhren wir zur adriatischen Küstenstadt Durrës ließen uns dort ein tolles Fischessen gefallen.

Am Abflugtag nahmen wir noch eine Gondel und fuhren mit der Seilbahn auf Tiranas Hausberg Dajti. Bei herrlicher Sicht und tollem Blick (Foto) auf Tirana endete dieser denkwürdige Kurzurlaub.

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